Ein hehres Ziel: Die Cochrane Collaboration bewertet anhand von Übersichtsarbeiten diverse Therapien - nach objektiven Kriterien und unabhängig von industriellen Interessen. Dazu analysieren internationale Review-Teams Daten aus diversen Quellen. Bei Oseltamivir stieß die Gruppe jetzt auf Ungereimtheiten.
Alles begann im Jahr 2003: Eine Metaanalyse von zehn Studien bescheinigte besagtem Neuraminidase-Hemmer gute Eigenschaften bei grippebedingten Folgeerkrankungen wie Lungenentzündungen oder Bronchitis. Darauf aufbauend, veröffentlichte die Cochrane Collaboration 2005 eine Übersichtsarbeit, die großen Nutzen in dieser Therapie sah. Bereits Ende 2009 häuften sich aber Zweifel, ob Oseltamivir die Zahl schwerer Komplikationen wirklich verringert. Eine Analyse von 20 Studien zeigte lediglich Vorteile hinsichtlich der Krankheitsdauer bei gesunden Erwachsenen, falls diese innerhalb von 24 Stunden nach Auftreten erster Symptome mit der Medikation begonnen hatten.
Gute Studien – schlechte Studien
Bei der erneuten Auswertung entdeckten Epidemiologen jetzt weitere Ungereimtheiten. Das Cochrane-Team hatte unveröffentlichtes Hintergrundmaterial von Zulassungsbehörden aus verschiedenen Ländern erhalten und mit bereits bekannten Studien verglichen. Ihr Fazit: Während publizierte Artikel dem Wirkstoff gute Eigenschaften bei Influenza-Infektionen bescheinigen, wurden weniger erfreuliche Daten kurzerhand unter den Teppich gekehrt. Das betraf fast jede dritte randomisierte, placebo-kontrollierte Phase-III-Studie zu Oseltamivir, auch eine vergleichsweise große Untersuchung mit 1.400 Teilnehmern. Entsprechende Daten lassen zwar den Schluss zu, dass sich Grippesymptome um durchschnittlich 21 Stunden verkürzen. Jedoch hat das Pharmakon keinen Einfluss auf die Zahl der notwendigen Einweisungen in Kliniken – sowohl unter Verum als auch unter Placebo musste sich knapp ein Prozent aller Patienten wegen Komplikationen in stationäre Behandlung begeben. Auch ließen sich manche Effekte des Arzneistoffs, beispielsweise eine Verringerung des Ansteckungsrisikos Dritter, gar nicht nachweisen.
Dann untersuchte das Cochrane-Team unerwünschte Eigenschaften. Nach ihrer Einschätzung ist die These, Oseltamivir führe nicht zu schweren Nebenwirkungen, keinesfalls haltbar. Vielmehr fand man in den jetzt ausgewerteten Studien Hinweise auf psychische Beeinträchtigungen. Die Quintessenz der Autoren: Zwar rechtfertigten schwere Erkrankungen wahrscheinlich den Einsatz von Oseltamivir, der Nutzen bei Ansteckungsrisiken oder Komplikationen sei aber fraglich.
Das Dementi folgt
Roche bezog umgehend Stellung und erklärte, Tamiflu stoppe die Vermehrung des Influenza-Virus. Die Substanz sei „nachweislich wirksam und im Allgemeinen gut verträglich für die Behandlung und Vorbeugung einer Influenza bei Erwachsenen und Kindern“. Auch den Vorwurf, Material verheimlicht zu haben, ließen die Tamiflu-Verantwortlichen nicht auf sich sitzen. Man habe 80 Prozent der Daten publiziert, der Rest entstamme größtenteils kürzlich abgeschlossenen Studien, die bald freigegeben würden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) meldete sich ebenfalls zu Wort. Nach derzeitigem Kenntnisstand habe sich an der positiven Nutzen-Risiko-Bewertung von Tamiflu bei bestimmungsgemäßer Verwendung nichts geändert, hieß es in einer Presseerklärung. Im Zulassungsverfahren seien auch die nicht publizierten Studien berücksichtigt worden. Nur hatte darauf kaum jemand Zugriff, auch nicht die Cochrane-Autoren.
Verzerrt und versteckt
Dieses Dilemma kommentierten Toby Lasserson und David Tovey von der Cochrane Editorial Unit in einem Leitartikel: Systematische Übersichtsarbeiten sollten alle relevanten Forschungsergebnisse in Bezug auf klinische oder gesundheitspolitische Entscheidungen aufführen. Wird aber nur ein Teil der Untersuchungen mit einbezogen, kann das zu Fehleinschätzungen führen. Laut den Autoren kein neuer Tatbestand – mittlerweile gibt jetzt sogar wissenschaftliche Arbeiten, die belegen, dass Studien mit positiven Resultaten eher beziehungsweise früher erscheinen als solche mit negativen Ergebnissen. Dieses Phänomen, in Fachkreisen als „Reporting Bias“ (Verzerrung der Berichterstattung) bekannt, ist besonders fatal bei neuen Pharmaka mit ohnehin dünner Datenlage.
Eine aktuelle Arbeit der University of California, San Francisco, USA, und des Nordic Cochrane Centre, Kopenhagen, Dänemark, erhärtet entsprechende Vermutungen. Insgesamt wiederholten Forscher 41 Metaanalysen für neun bereits zugelassene Arzneistoffe anhand von bisher unveröffentlichten Studien. Ihr Ergebnis: In 46 Prozent der Fälle erwies sich die Wirksamkeit des jeweiligen Pharmakons als zu gering, sieben Prozent der Daten waren identisch mit bekanntem Material, und bei 46 Prozent ließen sich stärkere Effekte als erwartet finden. Die Autoren fordern deshalb, auch nicht publizierte Informationen der US-Food and Drug Administration (FDA) allgemein zugänglich zu machen.
Zahnlose Tiger
Genau das hätte eigentlich längst geschehen sollen, entsprechende Vorschriften sind vorhanden: Wird ein Präparat in den Staaten zugelassen, verlangt die FDA sogar eine Veröffentlichung der Daten. Rückendeckung auf wissenschaftlicher Seite kam vom International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE): Mit einem Portal für klinische Studien sollte mehr Transparenz für spätere Veröffentlichungen geschaffen werden. Hersteller ignorieren entsprechende Forderungen größtenteils, ohne jegliche Konsequenz. In Deutschland ist das keineswegs anders: Zwar gibt es ein vergleichbares Internetportal des Deutschen Registers Klinischer Studien (DRKS). Mitmachen muss deshalb noch lange niemand: Unser Arzneimittelgesetz, es regelt auch die Veröffentlichung von Ergebnissen klinischer Prüfungen (§ 42b), bleibt ein zahnloser Tiger. Details fehlen, ebenso Maßnahmen, um die Publikation bei den Herstellern durchzusetzen.
Guter Rat – zum schlechten Zeitpunkt
Für die Weltgesundheitsorganisation stellt sich mittlerweile ein ganz anderes Problem: Bereits vor zehn Jahren hatte sie allen Staaten geraten, Neuraminidase-Hemmer für den Pandemiefall zu bevorraten. Dafür waren nicht zuletzt die guten Daten ausschlaggebend – keine schweren Nebenwirkungen, ein geringeres Ansteckungsrisikos sowie weniger Krankheitstage. Jetzt wird die WHO nicht umher kommen, ihre eigene Empfehlung kritisch zu prüfen, vielleicht sogar zu revidieren, aber zumindest eine herstellerunabhängige Studie auf den Weg zu bringen. Für Länder, die bereits über entsprechende Notfalldepots verfügen, ist das freilich zu spät.