In Deutschland glauben etwa 60 Prozent der Menschen, bestimmte Lebensmittel nicht zu vertragen. Aber an einer Nahrungsmittelunverträglichkeit leidet nur ein Bruchteil von ihnen. Ärzte sollten Patienten davon überzeugen, dass sie mehr vertragen, als sie denken.
Verunsicherte Patienten zwingen sich oft vorschnell zu Verzichtsdiäten oder bestellen im Internet teure, aber teilweise nicht aussagekräftige Lebensmittel-Reaktionstests. Ärzte können Patienten durch gezielte Aufklärung überzeugen, nicht unnötigerweise bestimmte Lebensmittel aus ihrem Alltag zu streichen. Die Begriffe „Allergie“, „Intoleranz“ und „Unverträglichkeit“ werden oft vermischt – dabei sind dies unterschiedliche Dinge, die es voneinander abzugrenzen gilt. Nur vier Prozent leiden an einer Intoleranz bzw. Allergie. Das ist zumindest das Ergebnis einer Studie verschiedener Allergologen vom Brigham and Women´s Hospital, dem Partners HealthCare System sowie der Havard Medical School in Boston. Die Mediziner hatten 2,7 Millionen Dokumente von Patienten analysiert, die zwischen den Jahren 2000 und 2013 in Boston und Umgebung behandelt worden waren. Die Akten verfügten über ein „Allergie“-Feld, in das die Mediziner unerwünschte Reaktionen auf Essen, Medikamente oder Umweltstoffen eintragen konnten. Allerdings enthalten die Daten neben bestätigten auch unbestätigte Intoleranzen bzw. Allergien sowie Nahrungsmittelvorlieben der Patienten. Insgesamt hatten die Allergologen in den 13 Jahren etwa 100.000 Reaktionen auf Lebensmittel registriert, wobei ein Patient durchschnittlich 1,2-mal reagiert hatte. 28 Prozent der Intoleranzen oder Allergien äußerten sich in Form einer Urtikaria, 16 Prozent in Form einer Anaphylaxie und 12 Prozent in Form von Magen-Darm-Beschwerden. Reaktionen wie Anaphylaxie, Kurzatmigkeit, Bronchospasmus, Urtikaria, Juckreiz, Angioödem oder Hypotension ordneten die Autoren als potenziell Immunglobulin E vermittelt ein. Übelkeit, Erbrechen, Magen-Darm-Beschwerden und Kopfschmerzen wurden demnach als Folgen einer Intoleranz eingeordnet.
Aus medizinischer Sicht ist eine „Nahrungsmittelunverträglichkeit“ der Überbegriff für unterschiedliche, unerwünschte Reaktionen auf Nahrungsmittel:
Eine Allergie beispielsweise gegen Kuhmilch ist ebenso eine Unverträglichkeit wie eine Intoleranz zum Beispiel gegen Milchzucker. Beide haben jedoch ganz andere Ursachen, mitunter andere Folgen und müssen ganz anders behandelt werden. Im Fall der Milchallergie reagiert das Immunsystem mit der Produktion von Antikörpern der Klasse E, Immunglobulin E oder kurz IgE. Die allergischen Reaktionen sind nicht auf bestimmte Organe begrenzt. Schleimhautreaktionen in der Mundhöhle und im Rachen (am häufigsten), Hautveränderungen (Quaddeln, Quincke-Ödem), Beschwerden im Magen-Darm-Trakt (Diarrhö, Obstipation), Hals-Nasen-Ohren-Bereich (Niesattacken, Fließschnupfen), Bronchien (Husten, Atemnot) oder sogar ein anaphylaktischer Schock sind möglich. Die Laktoseintoleranz beruht auf einem Enzymdefekt: Das Enzym Laktase, welches im Dünndarm Milchzucker verdaut, steht nicht oder nur in geringen Mengen dem Körper zur Verfügung. Die Folgen dieses Mangels sind Blähungen, breiiger Stuhlgang oder Diarrhoen sowie teils kolikartige Bauchschmerzen. Die Beschwerden sind grundsätzlich auf den Magen-Darm-Trakt beschränkt; Atemnot oder Hautveränderungen treten nicht auf.
Laut den amerikanischen Allergologen waren besonders Frauen (4,2 Prozent versus 2,9 Prozent) und Asiaten (4,3 Prozent versus 3,6 Prozent) von einer Lebensmittelintoleranz oder -allergie betroffen. Etwa 50 Prozent der dokumentierten Vorfälle könnten durch Immunglobulin E vermittelt gewesen sein. Bei einer immunologisch vermittelten Nahrungsmittelallergie reagierten die Menschen vor allem auf Meeresfrüchte (0,9 Prozent), Obst oder Gemüse (0,7 Prozent), Milchprodukte (0,5 Prozent) sowie Erdnüsse (0,5 Prozent) allergisch. Angaben zu Nahrungsmittelintoleranzen wurden nicht gemacht. Die Studie wurde vorwiegend in Massachusetts in der Region New England durchgeführt. Daher ist fraglich, ob die Ergebnisse auf die gesamten Vereinigten Staaten übertragen werden können. Denn die Häufigkeit von Lebensmittelallergien und ihre Auslöser sind von Region zu Region unterschiedlich. Besonders oft leiden Menschen in Ballungsräumen und in New England darunter. Zudem ist die Bevölkerung in New England zu 83 Prozent, in den übrigen Staaten jedoch nur zu 64 Prozent kaukasischer Abstammung.
Prof. Dr. med. Jörg Kleine-Tebbe, Allergie- und Asthma-Zentrum Westend © Dr. J. Kleine-Tebbe Nur etwa ein bis zwei Prozent der Erwachsenen leiden laut Prof. Dr. med. Jörg Kleine-Tebbe an potenziell bedrohlichen Nahrungsmittelallergien, die primär in Folge einer Sensibilisierung im Magen-Darm-Trakt auf vorwiegend stabile Proteinallergene entstehen – häufig schon im Säuglings- oder Kleinkindalter. Der Hautarzt und Allergologe ist im Allergie- und Asthma-Zentrum Westend in Berlin tätig und lehrt an der Charité Universitäts-Hautklinik. Werden auch die Patienten berücksichtigt, die an einer sekundären Nahrungsmittelallergie leiden, erhöht sich die Zahl der Betroffenen jedoch auf fünf bis zehn Prozent. Sekundäre Nahrungsmittelallergien entstehen infolge einer Sensibilisierung gegen Pollenallergene mit anschließender Reaktion auf strukturverwandte Allergene in Lebensmitteln. In unseren Breiten stehen Birkenpollen-assoziierte Nahrungsmittelallergien an der Spitze: IgE gegen das Birken-Hauptallergen Bet v 1 bindet an ähnliche Stressproteine aus der PR-10-Familie, die in winziger Menge in Kern- und Steinobst, Nüssen, Karotten und Soja enthalten sind. Meist verlaufen die lokalen Reaktionen nach Kontakt der Mundschleimhaut mit den rohen pflanzlichen Nahrungsmitteln mild, die Bet v 1-homologen Proteine sind nämlich thermo- und säurelabil. In gegarten Lebensmitteln sind sie unschädlich; nach dem Verschlucken werden sie ohnehin von der Magensäure zerstört. Nur manchmal reagieren Birkenpollen-Allergiker je nach Menge und Begleitumständen (z.B. nach körperlichen Anstrengungen) auch heftig auf diese pflanzlichen Nahrungsmittel, vor allem im Kopfbereich z.B. mit grotesken Schwellungen. Sicher häufiger als Nahrungsmittelallergien ist die Laktoseintoleranz. Etwa zehn bis 15 Prozent der Deutschen leiden wahrscheinlich an dem Enzymmangel. Prof. Dr. med. Dr. h. c. Torsten Zuberbier, Leiter des Allergie-Centrum-Charité © ECARF Institute GmbH Die Zahl der Menschen, die glauben, bestimmte Lebensmittel nicht zu vertragen, ist deutlich höher. In Deutschland sollen es gemäß kürzlich publizierter Zahlen über 60 Prozent sein [Paywall]. Doch nicht alle kommen in eine allergologische Sprechstunde. „Ihre Fälle werden also nicht dokumentiert und die Betroffenen nicht behandelt. Man weiß daher nicht, ob eine Unverträglichkeit vorliegt, und um welche es sich handelt“, so Prof. Dr. med. Dr. h. c. Torsten Zuberbier, Leiter des Allergie-Centrum-Charité von der Stiftung ECARF. Die Frage, ob Allergien und Intoleranzen zunehmen, sei laut dem Allergologen schwierig zu beantworten. „Bei Allergien lässt sich aber etwa beobachten, dass Heuschnupfen stärker und intensiver auftritt, weil der Klimawandel hierzulande für eine längere Pollensaison sorgt, exotische Pflanzen heimisch werden und auch die Luftverschmutzung eine Rolle spielt. Pollenassoziierte Kreuzallergien treten dadurch natürlich auch häufiger auf“, erläutert Torsten Zuberbier. „Auch lässt sich beobachten, dass exotische Lebensmittel mittlerweile immer und überall erhältlich sind, auch das kann Sensibilisierungen gegen einige Lebensmittel verstärken“ erläutert Torsten Zuberbier. Zudem wurden viele Allergien bzw. Intoleranzen früher nicht als solche erkannt. „Viele Menschen achten in dieser Hinsicht heute stärker auf ihren Körper und sie gehen dann zum Arzt, weil sie vermuten, dass etwas nicht stimmt. Das ist zu begrüßen“, so Torsten Zuberbier.
Auch viele Firmen haben das gesteigerte Gesundheitsbewusstsein der Deutschen erkannt und bieten Tests zum Nachweis von Nahrungsmittelunverträglichkeiten an – einfach, schnell und ohne Wartezeiten. Lebensmittel, die einem „nicht guttun“, sollen dann vom Speiseplan für eine bestimmte Zeit gestrichen werden. So könne die Nährstoffaufnahme verbessert, die Ausdauer im Sport gesteigert werden und man regeneriert nach dem Training schneller.
Bei diesen im Internet angebotenen Selbsttests kommt es darauf an, was im Blut nachgewiesen wird. Tests, die das Immunglobulin E nachweisen, gelten als wichtiger diagnostischer Baustein bei Verdacht einer Nahrungsmittelallergie. Dennoch können erhöhte IgE-Werte nur eine Allergiebereitschaft anzeigen, die bei etwa der Hälfte der deutschen Bevölkerung erhöht ist. „Aber nur die Hälfte der Menschen mit Allergiebereitschaft entwickelt Beschwerden, sodass man von einer Allergie sprechen kann“ meint Jörg Kleine-Tebbe. Bluttests auf spezifische IgE-Antikörper können daher auch verunsichern, wenn sie ungezielt und ohne vorherigen Allergieverdacht vorgenommen werden. Tests, die das Vorhandensein des Immunglobulins G im Blut messen, sind dagegen laut Jörg Kleine-Tebbe sinnlos. Denn jeder menschliche Körper reagiert bei Kontakt mit fremden Proteinen mit der Bildung spezifischer IgG-Antikörper. Ein hoher IgG-Spiegel zeigt daher keine Unverträglichkeit an, sondern nur, dass diejenige Person das entsprechende Nahrungsmittel zu sich genommen hat und sein Immunsystem fremde Proteine erkannt hat. „Das ist rausgeschmissenes Geld“, urteilt Jörg Kleine-Tebbe, der mit anderen Allergologen und Wissenschaftlern bereits 2009 europäische Leitlinien zu diesem Thema veröffentlicht hat. Daher wird auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz von der Anwendung von IgG-Tests gegen Nahrungsmitteln ganz klar abgeraten. Auch von anderen Methoden mit unwissenschaftlicher Basis wie Bioresonanz oder Kinesiologie wird laut Jörg Kleine-Tebbe in der kürzlich überholten Leitlinie zu Nahrungsmittelallergien entschieden abgeraten. Die gleiche Meinung vertritt auch Torsten Zuberbier. „Wer fürchtet unter einer Nahrungsmittel-Intoleranz zu leiden, sollte zu einem fachkundigen Arzt gehen“, rät er. „Wir raten generell von Tests ab, deren wissenschaftlicher Nutzen unklar oder widerlegt ist. Dazu gehören sogenannte IgG-Tests, Haaranalysen, Bioresonanz oder kinesiologische Tests.“
Auch die Lebensmittelindustrie hat den Trend erkannt und setzt verstärkt auf gluten- und laktosefreie Produkte. Die auffällige Werbung mancher Hersteller sowie die Vielzahl der angebotenen Produkte können bei den Verbrauchern den Eindruck erwecken, so die Verbraucherzentrale Sachsen, dass es sich um besonders qualitativ hochwertige Lebensmittel handle, die das Wohlbefinden steigern und beim Abnehmen helfen. Die vielen Berichte über Stars und ihre Ernährungsspleens fördern diesen Eindruck. Lebensmittel, die frei von Gluten oder Laktose sind, gelten daher häufig als Lifestyle-Produkte. Umfragen zufolge ernähren sich bis zu zehn Prozent der Menschen glutenfrei – und das obwohl sie das nicht bräuchten. „Das ist eine Modeerscheinung. Die Menschen glauben, dass Gluten für alle möglichen Beschwerden verantwortlich ist“ sagt Jörg Kleine-Tebbe. Andererseits gäbe es tatsächlich Menschen, die Gluten nicht vertragen; etwa ein Prozent der Bevölkerung würde zum Beispiel an Zöliakie, einer Erkrankung bei der sich IgA-Antikörper und Entzündungen im Darm bei Ernährung mit Gluten bilden, leiden und die müssten das Klebe-Eiweiß konsequent meiden.
Doch wie können Ärzte ihre Patienten davon überzeugen, dass sie nicht unnötig auf Lebensmittel verzichten müssen, wenn vermeintlich eine Allergie oder Intoleranz vorliegt? „Vertrauen gewinnen“ antwortet Jörg Kleine-Tebbe. „Und den Patienten anschließend aufklären.“ Torsten Zuberbier sieht das ähnlich. „Diagnose, Beratung und Aufklärung sind das A und O,“ meint er und nennt folgendes Beispiel: Menschen mit nachgewiesener Kuhmilchallergie müssen das Allergen, in diesem Fall die Milch, in jedweder Form meiden. Aber eine Kuhmilchallergie ist sehr selten im Gegensatz zu einer Laktoseintoleranz. Die Folgen beider Unverträglichkeiten können manchmal ähnlich sein: Bauchkrämpfe, Verdauungsbeschwerden, Unwohlsein. Aber für Menschen mit Kuhmilchallergie kann der Kontakt mit dem Allergen mitunter lebensbedrohlich werden (anaphylaktischer Schock). Bei einer Laktoseintoleranz passiert dies nicht. In so einem Fall reicht es aus, wenn die Betroffenen stark laktosehaltige Lebensmittel meiden oder bei Bedarf Laktasetabletten zu sich nehmen, um den Milchzucker richtig zu verdauen. Hier gibt es viel Unwissen: „Menschen mit Laktoseintoleranz verzichten oft unnötig auf Milchprodukte, die von Natur aus kaum oder gar keine Laktose enthalten. Dazu gehören Schnittkäse oder Mozzarella. Dann wiederum gibt es Produkte, etwa Vollmilchschokolade, denen Milchpulver konzentriert zugefügt wird, und die einen hohen Laktosegehalt aufweisen. So kann die groteske Situation entstehen, dass im Einkaufswagen die teure laktosefreie Milch, zum Wohle der Gesundheit, neben dem Fünferpack Schokoriegel liegt“ erläutert Torsten Zuberbier. „Je nach Unverträglichkeit lassen sich gute Ernährungspläne aufstellen, die viele Lebensmittel beinhalten. Abwechslungsreiche Ernährung ist wichtig, deshalb sollte man nicht unnötig auf Lebensmittel verzichten, die für den Körper wichtig sind.“ Doch nicht immer ist eine Intoleranz oder Allergie an Magen-Darm-Beschwerden schuld. Denn manche Lebensmittel sind einfach schwer verdaulich und sollten daher immer nur in Maßen verzehrt werden. „Ein Teller voller Pilze, Bohnen und Sauerkraut, dazu ein großes frittiertes Schnitzel an dunkler Mehlschwitze, ein Stück Sahnetorte, fünf Scheiben Käse und drei Gläser Rotwein: Natürlich kommt es da zu Beschwerden, denn die Mengen an sich und ihre Kombination sind nicht gut verträglich“, so Torsten Zuberbier.
„Ob und welche Unverträglichkeit vorliegt, klären wir zunächst in einem Gespräch über die Beschwerden und Ernährungsgewohnheiten,“ so Torsten Zuberbier. „Wenn wir eine Allergie vermuten, wird dieser Verdacht mit einem Hauttest und/oder Bluttest weiter abgesichert.“ Allerdings zeigen solche Tests nur die Sensibilisierung für einen bestimmten Stoff an – ein Beweis für eine Allergie sind sie nicht. Der anschließende Provokationstest bringt dann Sicherheit. Hierfür ernähren sich die Patienten einige Zeit allergenfrei. Im Anschluss erhalten sie unter ärztlicher Kontrolle geringe Mengen des Lebensmittels. Zur Diagnose der Nahrungsmittel-Intoleranzen stehen eine Reihe von diagnostischen Mitteln zur Verfügung, die sich zum Teil von allergologischen Tests unterscheiden. Neben einer ausführlichen Anamnese sowie das Führen eines Ernährungstagebuchs kommen Atemtests oder auch Provokationen zum Einsatz. „Wenn dann eine exakte Diagnose vorliegt, können wir gemeinsam mit dem Patienten einen geeigneten Therapieplan entwickeln,“ so Torsten Zuberbier.