Zellen, die zu entarten drohen, begeben sich häufig in eine Art „Winterschlaf“. Dieses als Seneszenz bezeichnete Programm bietet dem Immunsystem die Möglichkeit, diese Zellen aufzuspüren und gezielt zu eliminieren. Es verhindert so die Entstehung von Tumoren.
Es könnte doch so einfach sein: das Immunsystem erkennt alle Krebsvorläuferzellen und entfernt sie. Es gäbe keine malignen Tumoren mehr; Ärzte, Schwestern und Forscher hätten mehr Freizeit. Leider funktioniert die körpereigene Tumorabwehr nicht so gut, dass diese Hoffnung wahr werden könnte. Doch Wissenschaftler des Helmholtz Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig sind einem Mechanismus auf die Spur gekommen, wie sich das Immunsystem gegen entartete oder von Entartung bedrohte Zellen frühzeitig wehrt. Dass das Immunsystem Tumorzellen erkennen und in bestimmtem Maße auch unschädlich machen kann, war bekannt. Kontrovers diskutiert wurde bisher allerdings, ob es auch Vorläuferzellen erkennen kann, die nur von Entartung bedroht sind und welche Rolle ihm dabei genau zukommt.
Die maligne Transformation kann als Kräftemessen zwischen onkogenem Antrieb und dem zellulären Dagegenhalten verstanden werden. Bildet sich ein Tumor, so wurden die Tumorsuppressor-Mechanismen der Zelle niedergerungen. Entartete Zellen, deren Zellzyklus außer Kontrolle geraten ist, werden häufig durch eine intrazellulär ausgelöste Kaskade oder durch eine extrazellulär induzierte Reaktion in den programmierten Zelltod, die Apoptose, getrieben. Die Wissenschaftler um Prof. Lars Zender vom HZI haben nun einen weiteren Mechanismus entdeckt. Zellen, die besonders gefährdet sind zu Tumorzellen zu entarten, verlassen häufig ihren normalen Zellzyklus und begeben sich in einen Ruhezustand, der als Seneszenz bezeichnet wird. Seneszente Zellen befinden sich in einer Art „Winterschlaf“: sie teilen sich nicht und können sich daher nicht unkontrolliert vermehren. Gleichzeitig unterscheiden sie sich in Morphologie sowie verschiedenen biochemischen und physiologischen Parametern von sich teilenden Zellen. Von größerer Bedeutung ist aber, dass sie noch metabolisch aktiv sind. Seneszente Zellen kommunizieren mit ihrer Umgebung, indem sie einen Cocktail aus Hunderten von Botenstoffen sezernieren – beispielsweise Zytokine und Wachstumsfaktoren. Erst dadurch werden sie für das Immunsystem erkennbar und unterliegen fortan einer intensiven Kontrolle. „So verhindert der Körper, dass die Zellen sich weiter verändern und doch zu einem Krebs heranwachsen“, erklärt Lars Zender.
Seneszente Zellen sind tickende Zeitbomben
In Mäusen mit einem Immundefekt, bei denen keine T-Helferzellen zur Abwehr vorhanden sind, konnten die Forscher beobachten, dass sich seneszente Leberzellen zu einem Leberzellkarzinom entwickeln. Im Gegensatz dazu konnte in Labormäusen, in denen das Seneszenz-Programm künstlich ausgelöst worden war, beobachtet werden, dass das Immunsystem stark auf die veränderten Zellen regiert: Nach einigen Wochen waren die seneszenten Zellen aus dem Körper entfernt. Die Experimente zeigen auch, dass das Immunsystem gut daran tut, die seneszenten Zellen schnell zu entfernen. Passiert das nicht, können die Zellen einerseits aus ihrem „Winterschlaf“ wieder erwachen und in den unkontrollierten Wachstumszyklus einsteigen. Andererseits kann der Cocktail an sezernierten Botenstoffen zwei unterschiedliche Reaktionen fördern: im bereits beschriebenen Fall wird das Immunsystem aktiviert, im anderen Fall werden benachbarte Zellen dazu angeregt, ebenfalls den normalen Zellzyklus zu verlassen, wie Prof. Zender erklärt.
Doch wenn Zellen in der Seneszenz eine tickende Zeitbombe sind, warum werden sie dann nicht gleich in die Apoptose geschickt? Das ist eine der Kernfragen, an der die Wissenschaftler noch arbeiten. Sie wissen jedoch bereits, dass die Entscheidung – Apoptose oder Seneszenz – vom Zelltyp bzw. unterschiedlichen Stimuli abhängt. In blutbildenden Zellen, beispielsweise Lymphozyten, führt eine Schädigung der Zelle durch ein Onkogen meistens zur Apoptose. In epithelialen Zellen, in denen das gleiche Onkogen exprimiert wird, gehen die Zellen dagegen häufiger in die Seneszenz.
Verkürzung der Telomere führt in die Seneszenz
Warum es überhaupt beide Mechanismen nebeneinander gibt, lässt sich möglicherweise so erklären: Der Begriff der „replikativen Seneszenz“ wurde bereits im Jahr 1961 von Leonard Hayflick geprägt. Er stellte bei seinen in vitro Experimenten fest, dass humane diploide Fibroblasten die Replikation nach durchschnittlich 50 Teilungen unwiderruflich einstellen und in die Seneszenz eintreten. Die Ursache für diesen Vorgang wurde in den Telomeren gefunden, den nicht kodierenden DNA-Protein-Komplexen am Ende der Chromosomen. Die Leserichtung der DNA-Polymerase bei der Replikation des Erbmaterials im Zuge der Zellteilungen erlaubt nur für einen DNA-Strang die kontinuierliche Replikation. Der andere Strang wird diskontinuierlich repliziert, mittels so genannter Okazaki-Fragmente. An diesem Strang bleibt jedoch bei jeder Teilung ein nicht zu kopierender Überhang. Das führt zu einem Verlust von bis zu 200 Basenpaaren pro Zellteilung. Wird eine kritische, für die DNA-Replikation nötige Länge der Telomere unterschritten, stellt die Zelle ihre Teilungen ein und wird seneszent.
Folglich ist das Phänomen der Seneszenz typisch für alternde Zellen. In der Tat findet man bei älteren Menschen mit deutlich verkürzten Telomeren mehr seneszente Zellen, als bei jungen Menschen. Würden Zellen am Ende ihrer Teilungsfähigkeit in die Apoptose gehen, anstatt in Seneszenz, würden die Zellen in den Organen fehlen. Mit Hilfe der Seneszenz kann also die Organfunktion aufrechterhalten werden, auch wenn Zellen sich nicht mehr teilen. Diese „alters-seneszenten“ Zellen werden vom Immunsystem auch nicht eliminiert, wenngleich es für das Wohl der umliegenden Zellen günstig wäre, wie eine Publikation in Nature kürzlich zeigte. Einer der nächsten logischen Schritte ist für Prof. Zender die Analyse des Botenstoff-Cocktails. Wie unterscheidet sich die Zusammensetzung in „alternden“ seneszenten Zellen von „onkogenen“ seneszenten Zellen?
Ein universelles Prinzip?
Die Ergebnisse über die Seneszenz und den Einfluss auf das Immunsystem wurden an potentiellen Krebsvorläuferzellen in der Leber gewonnen. Sie demonstrieren erstmals, dass das Immunsystem eine wichtige Rolle bei der Vermeidung von Tumoren spielt. Besonders deutlich wurde das, als HIV-positive Personen mit Hepatitis C-Infektion untersucht wurden. Sie haben ein erhöhtes Risiko, Leberzellkarzinome zu entwickeln. Die Anzahl der seneszenten Zellen in der Leber war deutlich höher, als bei einer Kontrollgruppe von Hepatitis C-Patienten ohne HIV-Infektion. „Bei HIV-Patienten ist die Immunabwehr durch T-Helferzellen beeinträchtigt, so dass in Lebern von HIV-Patienten seneszente Leberzellen wahrscheinlich nicht effektiv entfernt werden können“, so Zender.
Automatisch stellt sich die Frage, ob der entdeckte Mechanismus spezifisch für die Leber ist, oder ob es sich um ein universelles Konzept handelt. Nach neueren Untersuchungen scheint es einen vergleichbaren Mechanismus auch im Pankreas und in der Lunge zu geben. Im Gegensatz dazu werden seneszente Zellen in Nävi, wo sie in großer Zahl vorkommen, vom Immunsystem scheinbar toleriert. Da Nävi jedoch gutartig sind, ist in diesem Stadium eine Säuberung von den seneszenten Zellen durch das Immunsystem möglicherweise nicht notwendig.
Großes Potential für Prävention und Therapie
Prof. Zender ist davon überzeugt, dass sich hinter dieser Entdeckung ein riesiges Potential für die Therapie und Prävention von Krebserkrankungen verbirgt. Wenn die genaue Zusammensetzung des Cocktails bekannt ist, den seneszente Zellen sezernieren, könnten Substanzen gezielt inhibiert werden, um in den Prozess einzugreifen. Das Seneszenz-Programm in Tumorzellen gezielt auszulösen und gleichzeitig das Immunsystem zu stimulieren ist eine weitere Idee. Aus der Chemotherapie ist bekannt, dass viele Chemotherapeutika Seneszenz auslösen, besonders bei niedrig dosierter Chemotherapie. In hoher Dosierung wird verstärkt Apoptose beobachtet. Ließe sich eine Balance finden, zwischen Seneszenz-Auslösung im Tumor und einem potenten Immunsystem, könnte der körpereigene Abwehrmechanismus besser genutzt werden. Auch wenn verschiedenste Ansätze denkbar sind, um den Mechanismus der Seneszenz gezielt in der Therapie einzusetzen, wird es bis zu einer klinischen Anwendung noch mehrere Jahre dauern. Bis dahin bleibt für jeden Gesunden wohl nur die Möglichkeit, das Immunsystem mit Sport und gesunder Ernährung so fit zu halten, dass es die ein oder andere seneszente Zelle rechtzeitig erkennt und entsorgt.