Blockierte Herzkranzarterien lösen nicht immer einen Infarkt aus. Denn bei drohender Gefahr können Kollateralgefäße die Versorgung übernehmen. Wissenschaftler zeigten nun, dass ein gut ausgebildetes Ader-Netzwerk die Sterblichkeit deutlich vermindert.
Raucher, Fettleibige, Personen mit hohem Blutdruck oder Diabetiker haben höhere Chancen, einen Herzinfarkt zu überleben als fitte gesunde Menschen, bei denen die Versorgung des Herzens versagt. In der Rubrik „Erstaunliches aus der Medizin“ gingen die Befunde von John Canto aus Florida und seinem Team vor kurzem durch die gesamte Medienlandschaft. Ärzte und Journalisten spekulieren seitdem über die Gründe für das erhöhte Risiko für den großen Pumpmuskel gleichzeitig mit der Immunität gegen den Exitus.
Blockierte Arterien - trotzdem kein Infarkt
Stefan Engelhardt von der TU München erklärt, dass hinter dem Phänomen Kollaterale stecken könnten. Die kleinen Gefäße, die Gebiete zwischen den großen Herzarterien im Epikard verbinden, sind unterschiedlich dicht verwoben. Bei manchen Patienten finden sie sich sehr spärlich, während sie bei anderen ein enges Netz spannen. Sicher ist jedoch, dass Stress in den Versorgungskanälen die Bildung von Kollateralen anregt. Starke Scherkräfte in den Gefäßen entstehen sowohl bei körperlicher Anstrengung und Sport, aber auch bei Atherosklerose und regen den Körper an, solche Umgehungsstraßen anzulegen.
Auf Kardiologenkongressen tauchen immer wieder Beschreibungen von Patienten mit zurückliegender koronarer Herzkrankheit (KHK) auf, die nicht aufgrund ihrer Herzinsuffizienz gestorben waren. Bei der Obduktion fanden dann die Ärzte verschlossene große Arterien, ohne dass es jemals zu einem Infarkt gekommen wäre. Bis vor einigen Jahrzehnten glaubten auch noch viele Experten, dass es sich bei diesen Herzkranzgefäßen um reine Endarterien handle, die sich zwar verzweigen, aber keinen Anschluss an andere Versorgungswege haben. Nun scheint es so, als hätten die Kollateralen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Notversorgung, sondern auch beim Schutz vor dem tödlichen Blutstau im Zentrum.
Kollateralnetz erhöht Überlebenschance um mehr als ein Drittel
Pascal Meier vom Londoner University College und das Team von Christian Seiler vom Berner Inselspital haben mit einer Publikation im European Heart Journal im Herbst dieses Jahres viel dazu beigetragen, dass sich zunehmend mehr Kardiologen für Kollateralen interessieren - nicht nur bei akuter Infarktgefahr, sondern auch bei Patienten mit beginnender koronarer Herzerkrankung. Die Schweizer und ihre Kollegen schauten sich 12 Studien genauer an, die den Faktor „Mortalität“ in Zusammenhang mit starkem oder schwachem Kollateralen-Durchfluss brachten. Bei den untersuchten rund 6500 Patienten reduzierte sich das Sterberisiko um rund 36 Prozent, wenn sie über ein ausgeprägtes Kollateralsystem verfügten. Dabei unterscheiden sich die entsprechenden Zahlen für Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit, subakutem oder akutem Myokardinfarkt nur wenig. Auch Wolfgang Schaper vom Bad Nauheimer Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung unterstreicht in einem Kommentar, dass die „koronare Kollateralisation einen relevanten protektiven Effekt“ hat.
Es sieht so aus, dass das gut aufgespannte Netz nicht nur die Bedrohung für den Herzmuskel anzeigt, sondern ihn auch vor dem endgültigen K.O. schützt. Vorerst haben die Forscher aber nur die Assoziation zwischen Sterberate und Bypass-Gefäßen gefunden. Erst wenn es gelingt, „Schleichwege“ um die stauträchtige Autobahn künstlich auszubauen, könnte man den Beweis für die vorbeugende Wirkung führen. Medikamente dafür, so schreibt Schaper weiter, gäbe es derzeit noch nicht. An der Charité versucht man daher wie auch in Bern, mit physikalischen Methoden die Scherkräfte zu simulieren, die sonst die Plaques in den Gefäßen erzeugen.
Herzhose fördert natürlichen Bypass-Ausbau
Externe Gegenpulsation heißt die Methode in der Medizinsprache, das Gerät dafür haben die Entwickler „Herzhose“ getauft. Die sechs aufblasbaren Manschetten um Ober- und Unterschenkel üben im Rhythmus des Herzschlags Druck auf die Gefäße aus. Damit hat das System einen ähnlichen Effekt wie etwa intensiver Sport. Eine Studie mit dreiundzwanzig KHK-Patienten zeigte, dass dabei der Blutfluss um das Doppelte zunahm. Die Beschwerden verminderten sich soweit, dass die Behandlung sechs von ihnen eine Ballondilatation oder einen Stent ersparte. Auch in der Schweiz sind die Erfahrungen mit dieser Methode gut. Kurzfristig - sogar dann, wenn der Infarkt schon eingetreten ist - scheint nach Beobachtungen von Erik Bøtker aus dem dänischen Åarhus auch das Aufblasen der Arm-Manschette bei der Blutdruckmessung zu helfen. Vier mal fünf Minuten, so die Lancet-Publikation, retten rund zehn Prozent des ischämischen Gewebes.
Warum aber haben manche Patienten ohne Gefäßprobleme ein ausgeprägtes Kollateralnetz, während es anderen auch unter Arterienstress abgeht? Liegt es möglicherweise an der erblichen Ausprägung von Steuerfaktoren oder einem aktiven Immunsystem, wie Schaper im European Heart Journal spekuliert? Das sind wichtige Fragen, auf die es bisher noch keine schlüssigen Antworten gibt.
Menschen mit koronarer Herzkrankheit machen rund ein Fünftel aller Todesfälle in Deutschland aus. Rund ein Drittel überlebt den ersten Herzinfarkt nicht. Wer die natürlichen Schutzmechanismen für das Herz stimulieren kann, erspart sich risikoreiche Operationen. Eine Methode dafür funktioniert jedoch auch ohne großen technischen Aufwand: Sport.