Längst gehören Arzneimittelnamen wie Salvarsan oder Prontosil der Vergangenheit an. Medikamente mit komplizierten Namen werden von Patienten als potenziell gefährlich eingestuft und dementsprechend niedriger dosiert – ohne Absprache mit dem Arzt.
Früher war die Welt noch in Ordnung, zumindest bei Arzneimittelnamen. Apotheker und Ärzte konnten bei vielen Begrifflichkeiten die Wirkung mehr oder minder direkt ableiten. Wer heute einen Blick in das europäische „Community register of medicinal products for human use“ wirft, kann mit einigen Wortungetümen ohne ein gewisses Hintergrundwissen nichts mehr anfangen.
Bei Salvarsan lässt sich der Name sprachlich gut ableiten (salvare: retten, heilen; sanus: gesund, heil; daneben der Hinweis auf Arsen). Das Foto zeigt ein Salvarsan- Behandlungsset für Ärzte © Wellcome Images / CC BY 4.0 Zu dieser Erkenntnis kommt auch Professor Hermann J. Roth, ein emeritierter Hochschullehrer für Pharmazeutisch-Medizinische Chemie aus Karlsruhe. Roth wagte einen Blick in den „Gehes Codex der Bezeichnungen von Arzneimitteln, kosmetischen Präparaten und wichtigen technischen Produkten“ aus dem Jahr 1920. Darin tauchen etwa Antimarin gegen Seekrankheit, Blutbanner zur Blutstillung oder Satyrin als Aphrodisiakum auf. Nomen est omen. 1964 finden sich im Nachschlagewerk viele semantisch nachvollziehbare Begriffe, etwa aus der Dermatologie. Hier nennt Rot etwa Aknederm, Akne-Ex, Aknefug, Anginosan, Antihydral sowie Aristochol. Präfixe (Akne-, Bronchi-, Dolor-, Ekzem- u.a.) gaben Hinweise auf die Anwendung. Manchmal standen sie auch für Hauptinhaltsstoffe, etwa bei Dexa- (Dexamethason), Ferro- (Eisen), oder Theo- (Theophyllin). In einem ähnlichen Sinne haben pharmazeutische Hersteller Suffixe eingesetzt, um den Anwendungsbezug (-bronachal, -card, -dolor, -dorm) beziehungsweise das Pharmakon (-cortin) zu transportieren. Schauen Apotheker heute in die Rote Liste – Gehes Codex existiert schon lange nicht mehr – finden sie kaum noch derart logisch aufgebaute Begriffe. Mit einer Ausnahme: Bei oralen Kontrazeptiva, die Frauen meist aus eigener Tasche bezahlen, bemühen sich Firmen um gut einprägsame Begriffe. Besonders häufig kommen Frauennamen beziehungsweise feminine Neologismen vor, etwa Diane®, Petibelle®, Valette® oder Yasmin®.
Trotz der immensen Vielfalt an Begrifflichkeiten ist nicht jeder Name möglich. Für Deutschland lohnt sich ein Blick in die Leitlinie zur Bezeichnung von Arzneimitteln. Das Dokument stammt vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sowie vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und basiert auf EU-Regularien. Namen setzen sich aus der Bezeichnung des Präparats, der Stärke, der Darreichungsform sowie – falls erforderlich – Informationen über den Anwenderkreis zusammen. Als Beispiel wird „Ibuprofen Pharma 100 mg Tabletten für Kinder von 6 bis 12 Jahren“ genannt. Reine Zahlen ohne Maßeinheiten sind als Stärkeangabe generell unzulässig. Sie sorgen speziell bei Wirkstoffen, die als Salz oder freie Base chemisch bekannt sind, ohnehin für Verwechslungen. Als eindeutige Möglichkeit nennt die Leitlinie folgende Notation: „Metoprolol ‐ Pharmapharm 78 mg Tabletten [Zusammensetzung:] 1 Tablette enthält: Metoprololsuccinat entsprechend 78 mg Metoprolol“. Die Angabe jedes Wirkstoffs soll gemäß europäischem Recht als internationaler Freiname (INN; International Nonproprietary Name) erfolgen; der INN wird von der WHO auf Antrag vergeben. Entdecker neuer Substanzen haben ein Vorschlagsrecht, dem WHO-Vertreter meistens folgen. Außer INN sind Phantasiebezeichnungen möglich. Sie können aus einem Wort, aber auch aus mehreren Begriffen bestehen, wobei PEI und BfArM zur Ein-Wort-Regel raten. Als mögliche Kriterien werden Anwendungsgebiete, Patientengruppen, Anwendungsarten, galenische Besonderheiten, aber auch der Verschreibungsstatus und das Spektrum möglicher Nebenwirkungen genannt. Ähnlichkeiten zu anderen INN, zu Darreichungsformen oder Präparaten sollten Hersteller vermeiden.
Blick in Gehes Codex aus 1914. Klingende Namen wie zu früheren Zeiten beeinflussen Patienten © TU Braunschweig / Screenshot: DocCheck Arzneimittelnamen haben jedoch weit mehr Bedeutung, als Arzt und Apotheker zu informieren. Zu diesem Ergebnis kommt Dr. Simone Dohle von der Universität Köln. Die Psychologin hat 70 Probanden in eine Studie aufgenommen. Sie sollten sich vorstellen, an einem Magen-Darm-Infekt zu leiden und Pharmaka zu benötigen. Dohle wählte Phantasiebezeichnungen wie Ribozoxtlitp, Nxungzictrop, Tonalibamium, Calotropisin oder Fastinorbin. Keines der Präparate existiert. Ihre Namen sind aber leichter oder schwerer auszusprechen. Es sollte sich um vermeintlich chemische oder pflanzliche Wirkstoffe handeln. Teil der Studie war auch ein vorgegebenes Dosisintervall, aus dem Probanden selbst wählen konnten. Ließen sich die Worte flüssig aussprechen, entschieden sich Teilnehmer für höhere Dosierungen als bei Zungenbrechern, so das Ergebnis der Studie. Ob es sich um vermeintliche Phytopharmaka handelte oder nicht, war dabei unerheblich. Dieses Verhaltensmuster unterschied sich nicht – egal, ob die Medikation für Probanden selbst oder für ein Kind bestimmt ist. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Arzneimittelnamen mächtige Faktoren für das Dosierungsverhalten sind“, resümiert Dohle im Artikel. Präparate mit leichter Begrifflichkeit würden als ungefährlicher eingeschätzt. Sperrige Namen auszusprechen, kostet Mühe und löst negative Gefühle aus. Die Erkenntnis ist nicht neu. ULCA-Forscher Daniel M. Oppenheimer stellte Zusammenhänge zwischen der guten Entwicklung von Aktienkursen und flüssig aussprechbaren Namen der Wertpapiere her. Ein weiterer Aspekt betrifft soziale Einschätzungen. Erhielten Probanden die gleichen Aussagen in sperrigen und einfachen Formulierungen, bewerteten sie Autoren schwer verständlichen Texte als weniger intelligent. Zurück zur Pharmazie. Bleibt als Frage, ob es sinnvoll ist, beispielsweise Pharmaka mit geringer therapeutischer Breite oder mit zahlreichen Nebenwirkungen durch gefährlich anmutende Namen zu schützen. Vielleicht sinkt im gleichen Atemzug die Therapietreue: ein spannender Ansatz für weitere Forschungsprojekte.