Wenn sich Pfleger bei der Frage „Maximaltherapie oder Palliativversorgung“ übergangen fühlen oder Angehörige und Ärzte um den Willen des Kranken streiten, dann hilft ein Ethikkonsil weiter. Klinische Ethikkomitees sehen sich aber nicht nur als Moralinstanz.
Der Fall: Frau W. ist 18 Jahre alt und leidet an schwerer Anorexia nervosa bei einem BMI von 9,5 kg/m2. Sie ist depressiv und wünscht statt der Behandlung in der Universitätsklinik die Verlegung in eine palliative Einrichtung. Trotz zahlreicher Therapieversuche in der Vergangenheit konnte sie nicht von ihrer Magersucht geheilt werden und will auf keinen Fall zum Essen gezwungen werden. Lieber, so sagt sie, möchte sie sterben. Die Eltern lehnen das Ansinnen strikt ab, die Patientin verhält sich jedoch zunehmend aggressiv zu Pflegern und Ärzten und verwehrt die Zusammenarbeit. Psychiater halten die normal intelligente Frau für voll urteilsfähig. Soll die junge Frau verlegt werden oder unter allen Umständen - auch gegen ihren Willen - weiterbehandelt werden?
„Moralische Urteilsfindung noch immer unprofessionell“
Nachzulesen ist dieser Fall aus dem Jahr 2010 in der Zeitschrift „Ethik in der Medizin“, zusammen mit zwei Kommentaren von Ethikberatern der Unikliniken Aachen und Zürich. Immer öfter suchen Ärzte bei ihren Entscheidungen den Ratschlag von Ethikkonsilen an der Klinik. Soll der Patient trotz infauster Prognose weiterhin eine Maximalbehandlung erfahren, das Frühchen in der 23. Woche trotz schwerer Behinderung weiter im Brutkasten versorgt werden? Gerald Neizke, Ethiker an der Medizinischen Hochschule Hannover kritisiert: „Im Klinikalltag werden immer noch viele Entscheidungen aus dem hohlen Bauch heraus gefällt“. Während sich Ärzte bei der medizinischen Behandlung auf Leitlinien verlassen, „arbeiten wir in der moralischen Urteilsfindung weit unter dem professionellen Niveau.“
Damit das Krankenhaus aber nicht zu einem reinen „Reparaturbetrieb für kaputte Körper“ verkommt, treffen sich in immer mehr Kliniken Pfleger mit Ärzten, Seelsorgern und Psychiatern, manchmal auch Juristen zu ethischen Fallberatungen. Von Schwangerschaftsabbruch bis zur Behandlung für Zeugen Jehovas reicht das Spektrum der Konferenzen. „Ethikkonsil.de“ listet nicht nur Kliniken auf, an denen es ein Ethikkomitee gibt, sondern auch Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Patientenverfügungen und Menschen mit Sterbewunsch, die diese Gremien erarbeitet haben.
Gespräch ohne Hierarchiebarrieren
Gerade auf Intensivstationen werden Entscheidungen zwar nach bestem Wissen und Gewissen gefällt, zu oft aber ohne Rücksprache mit den Pflegern, nach einem kurzen Gespräch in Zeitnot mit den Angehörigen oder dem Patienten selber. Weil sie sich übergangen fühlen, entstand etwa an der Uniklinik Köln ein Klima der Unzufriedenheit und in der Folge auch eine überdurchschnittlich hohe Fluktuation im Pflegedienst. Inzwischen können alle eine ethische Fallbesprechung anregen, die mit dem Patienten zu tun haben: Ärzte, Pfleger, aber auch Angehörige. Das heißt jedoch nicht, dass jedes Mal auch Familienmitglieder oder Partner des Patienten an den Sitzungen teilnehmen. Erfahrungen in der Schweiz besagen, dass nur knapp die Hälfte der Angehörigen bereit ist, mit dem medizinischen Personal über die Weiterbehandlung zu diskutieren.
Ethikberater der Klinik moderieren die Fallbesprechung und helfen bei der Suche nach einer Lösung die für alle annehmbar ist. Die ergibt sich manchmal auch erst nach mehreren Sitzungen. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Patienten und seine Krankheit nehmen damit auch viel von der Spannung zwischen unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen im Krankenhaus. Dennoch bleibt auch nach der Besprechung der Wille des Patienten wichtigster Faktor bei der Therapieentscheidung. Die Verantwortung dafür hat immer noch der Arzt.
Angriff auf die ärztliche Souveränität?
Es ist genau fünfzig Jahre her, als im amerikanischen Seattle zum ersten Mal ein klinisches Ethikkomitee zusammentrat. Damals ging es um die Verteilung von wenigen Dialyseplätzen an eine Vielzahl von Nierenkranken. In Deutschland waren es Ende der neunziger Jahre zuerst Kliniken mit kirchlichen Trägern, die eine klinische Ethik in ihr Haus brachten. In den USA gibt es inzwischen in jeder Klinik ein solches Gremium. Bereits 2003 zeigte eine Studie von Lawrence Schneiderman, dass fast 90 Prozent aller Ärzte, Schwestern, Patienten und Angehörigen mit einer solchen Unterstützung in Moralfragen zufrieden waren. Ein damaliger Vergleich mit Einrichtungen ohne diese Instanz ergab bei gleicher Mortalität auch Vorteile für das Krankenhaus: Weniger Tage auf der Intensivstation und generell in der Klinik für die betroffenen Patienten, zusätzlich zum besseren Betriebsklima auf den Stationen.
Bei zehn bis fünfzehn Prozent aller Versorgungseinrichtungen liegen die Schätzungen für die Verbreitung von Ethikkomitees in Deutschland. Nach wie vor behindert die Hierarchie die Arbeit von medizinischen Ethikberatern. Viele Chefärzte betrachten die Ratschläge noch immer als gravierenden Eingriff in ihre Entscheidungsfreiheit für die beste Therapie für ihren Patienten. Weil sich das Krankenhaus Vorteile bei einer Zertifizierung erhofft, werden Ethikkomitees oft nur zum Schein installiert, ohne Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungen auf der Station.
Leitlinien und Kommunikationstraining
Ethikkomitees sollen aber über den klinischen Alltag hinaus wirken: Erstellung von Ethik-Leitlinien, ethische Fortbildungen für die Mitarbeiter. „Wie überbringe ich schlechte Nachrichten?“, „Wie kommuniziere ich richtig bei Konflikten?“, lauten beispielsweise die Themen mit Rollenspiel-Training an der Uniklinik in Erlangen, „Patientenverfügung in einfacher Sprache“ am evangelischen Krankenhaus Bielefeld.
Die aktuelle Diskussion um Hirntod und Organtransplantation oder Tiefenhirnstimulation bei Depressionen beweist, dass die Themen für Ethiker an den Kliniken nicht ausgehen. Und mit einer neuen Generation an Ärzten auf den Chefposten und ehemaligen Kollegen als Ethik-Berater wächst auch immer mehr die Zustimmung für den zusätzlichen, aber lohnenden Aufwand. 1962 schrieb das amerikanische Magazin LIFE über das erste Ethikkomitee: „Sie sind Herren über Leben und Tod“. Das stimmt heute nicht mehr.