CSI Bern: Dank Gerichtsmedizinern aus der Schweiz setzen sich bildgebende Verfahren auch bei der Obduktion immer weiter durch. Virtuelle Autopsie heißt das Zauberwort, mit CTs und Computern statt Knochensägen. Das Skalpell kann aber noch lange nicht im Schrank verschwinden.
„Wenn auf jedem Grab eines Ermordeten, von dem wir irrtümlich annehmen, dass er eines natürlichen Todes gestorben sei, eine Kerze brennen würde, wären nachts alle Friedhöfe hell erleuchtet“: Drastische Worte von Horst Herold, ehemals Chef des Bundeskriminalamts. Heute sieht die Lage nicht viel besser aus – pro Jahr sterben in Deutschland rund 860.000 Menschen, aber nur wenige landen auf dem Tisch von Rechtsmedizinern, vor allem aus Kostengründen.
Teurer Tod
Gerichtsmedizinische Leichenöffnungen müssen laut Strafprozessordnung von zwei Ärzten vorgenommen werden, davon einem Gerichtsarzt beziehungsweise Leiter eines entsprechenden Instituts. Nach der äußerlichen Inspektion des Körpers nehmen sie Bauch-, Brust und Schädelhöhle in Augenschein, weitere toxikologische, molekularbiologische oder pathologische Tests folgen. Doch Personal ist teuer, etliche Institute wurden mittlerweile geschlossen oder zusammengelegt. Und allzu sorglos ausgestellte Totenscheine führen ebenfalls nicht gerade zur Aufdeckung möglicher Gewaltverbrechen. Hier könnte ein schnelles Screening mit bildgebenden Verfahren zumindest erste Anhaltspunkte auf unnatürliche Todesursachen liefern. Dafür spricht aber noch weitaus mehr: Wird die Leiche schließlich zur Bestattung freigegeben und möglicherweise sogar kremiert, sind alle Indizien für immer verloren. Daten hingegen lassen sich Jahre später erneut auswerten, unter völlig neuen Gesichtspunkten, sollten sich andere Verdachtsmomente ergeben oder plötzlich ein Tatwerkzeug auftauchen. Methodisch profitieren Gerichtsmediziner dabei von Erfahrungen am lebenden Patienten.
Wer hat´s erfunden?
Entsprechende Verfahren wie die Computertomographie (CT) oder die Magnetresonanztomographie (MRT) haben sich in der Humanmedizin längst etabliert. Auf die Strahlenbelastung müssen Rechtsmediziner aber keine Rücksicht nehmen, und so arbeiten sie mit weitaus höheren Röntgendosen. Postmortale Mehrschichten-Computertomographen liefern deshalb brillante Bilder mit exzellenter Auflösung, und das in kürzester Zeit. Die Daten lassen sich auf Festplatten archivieren oder an externe Experten versenden. Auch fühlen sich Angehörige wohler, wenn sie wissen, dass ihre Lieben vor der Beerdigung nicht unter dem Messer der Rechtsmedizin lagen. Einer der Vorreiter auf diesem Gebiet ist Professor Dr. Michael J. Thali. Zusammen mit seinem Team an der Uni Bern entwickelte er „Virtopsy“, eine Synergie gleich mehrerer bildgebender Verfahren: Laserscanner tasten die Haut Pore für Pore ab, sie übersehen keinen Einstich, keine Schürfwunde und keinen Schnitt. Dann geht es mit Multiline-CT und MRT in die Tiefe. Aus einer Vielzahl an Daten entsteht schließlich am Computer ein dreidimensionales Abbild der sterblichen Hülle. Gute Erfahrungen mit der Virtopsy hat Thali bei Verletzungen des Weichteilgewebes gemacht, etwa Bissen, die mit den Zähnen potenzieller Täter abzugleichen waren. Auch lassen sich Gewalteinwirkungen wie Messerstiche oder Schussverletzungen mit möglichen Tatwaffen in Einklang bringen sowie Stichkanäle und Flugbahnen von Projektilen bestimmen.
Schreckliche Taten genau rekonstruiert
Professor Dr. Michael Tsokos und Dr. Lars Oesterhelweg vom Institut für Rechtsmedizin an der Berliner Charité haben mit der neuen Technik ebenfalls bahnbrechende Erfolge zu vermelden: Sie wiesen bei zwei Neugeborenen, die aus dem Fenster geworfen wurden, anhand von Luft in der Lunge nach, dass diese vor ihrem Sturz noch am Leben waren. Belastende Indizien für Täter; die Behauptung, es handele sich um Totgeburten, ließ sich schnell widerlegen. Luftinjektionen im Falle von Sterbehilfe bleiben ebenfalls kein Geheimnis mehr, klassisch sind diese nicht immer zweifelsfrei nachzuweisen. Auch identifizierten Forensiker in einem völlig zertrümmerten Schädel feinste Spuren, die ein Projektil hinterließ, und zwar nach Jahrzehnten. Knochen erzählen bei der virtuellen Leichenschau noch viel mehr: Längst verheilte Frakturen, etwa durch Misshandlungen entstanden, werden sichtbar.
Oder aber ein Verkehrsunfall mit Todesfolge: Anhand der dreidimensionalen Rekonstruktion von Brüchen konnten Gerichtsmediziner beweisen, dass ein Fahrradfahrer von hinten erfasst wurde und nicht – wie vom Autofahrer behauptet – aus einer Seitenstraße unter Missachtung aller Vorfahrtsregeln auf die Hauptstraße einbog. Geht es darum, feine Strukturen wie Blutgefäße besser darzustellen, greifen Mediziner zu einem Trick: Ist die Verwesung noch nicht weit fortgeschritten, pumpen sie mit Herz-Lungen-Maschinen Kontrastmittel in die sterbliche Hülle, und detailgenaue Angiographien belohnen alle Mühen. Neben rein wissenschaftlichen Vorteilen profitieren Kollegen auch von ethischen Aspekten, falls bei Leichen, die nicht von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurden, Angehörige ihr Einverständnis zur Öffnung untersagen. Auch gehen immer mehr Häuser dazu über, Verstorbene im Zuge der Qualitätssicherung routinemäßig mit virtuellen Verfahren zu untersuchen, um Behandlungsfehler auszuschließen.
Nicht ohne mein Skalpell
Dennoch macht die virtuelle Autopsie etablierte Techniken keinesfalls überflüssig, so das Resultat einer Studie am John Radcliffe Hospital, Oxford, Großbritannien. Kollegen um Ian SD Roberts verglichen die Genauigkeit der Post mortem-CT und -MRT mit klassischen Obduktionen. Das Team untersuchte dazu 182 Fälle – und dokumentierte etliche Fehler: 32 Prozent bei der CT und 43 Prozent bei der MRT. Vor allem wurden ischämische Herzkrankheiten, Lungenembolien, Lungenentzündungen sowie Läsionen im Abdomen übersehen. Auch waren sich Radiologen in 42 Prozent (MRT) beziehungsweise 34 Prozent (CT) der Fälle sicher, dass ein Griff zum Skalpell unnötig wäre – bei der nachfolgenden Leichenöffnung kam es immerhin noch in 21 Prozent (MRT) beziehungsweise 16 Prozent (CT) zu starken Abweichungen gegenüber der vermeintlichen Todesursache. Das Resümee: Ian SD Roberts bescheinigt virtuellen Methoden zweifelsohne große Potenziale, sieht aber noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Dem trägt die deutsche Praxis Rechnung, dass bildgebende Befunde momentan nur in Kombination mit einer Autopsie vor Gericht verwertbar sind. Fließen außerdem noch Daten der digitalen Tatortrekonstruktionen mit ein, haben Richter, Schöffen und Staatsanwälte in der Hauptverhandlung anschaulichere Beweise, als sie schriftliche Aufzeichnungen allein je bieten könnten. Jetzt arbeiten Wissenschaftler an der weiteren Optimierung entsprechender Technologien.
Fäulnis-Forschung
Mit Hilfe der MRT lassen sich bereits heute Abbauprodukte aus diversen Zersetzungsprozessen aufspüren – wichtig für die möglichst exakte Ermittlung des Todeszeitpunkts. Ansonsten laufen Projekte im Stil der US-amerikanischen „Body Farm“: Begannen dort 1971 Verwesungsexperimente unter verschiedenen Bedingungen mit makroskopischer Auswertung, versuchen Gerichtsmediziner jetzt, die Vorgänge im CT nachzuvollziehen. Wie verändern sich Organe – und wie wirken sich Fäulnisgase oder Flüssigkeiten auf die Untersuchung aus? Von diesen Daten letztlich hängt ab, ob beziehungsweise wann die virtuelle Autopsie klassische Verfahren verdrängen wird.