Eine aktuelle Studie zeigt, dass mit einer kurzzeitigen hochdosierten Opioidgabe das Löschen des Schmerzgedächtnisses möglich ist. Ist das die Zukunft für Patienten mit chronischen Schmerzen? Klinische Studien werden es zeigen.
Verschiedene Menschen empfinden Schmerzen unterschiedlich. Die Geburtsschmerzen sind beispielsweise für manche Frauen gut zu ertragen, für andere ohne Schmerzmittel nicht auszuhalten. Doch egal wie die Frau die Schmerzen empfindet, sie sind relativ schnell vorbei und bald vergessen. Ganz anders ist die Situation bei Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden.
Das Schmerzgedächtnis – ein Fehler im System?
Akute Schmerzen erfüllen eine sinnvolle und mitunter lebenserhaltende Funktion: Sie dienen als Warnsignal und weisen den Körper auf Schädigungen oder Verletzungen von außen oder im Inneren hin. Auf den chronischen Schmerz trifft das nicht zu. Werden Schmerzrezeptoren, so genannte Nozizeptoren, durch ein akutes Schmerzgeschehen ständig gereizt, erfolgt eine stetige Signalübertragung an die Neuronen des peripheren Nervensystems. Über längere Zeit führt das ständige Feuern der Neuronen zu zellulären Veränderungen an den Synapsen. Über die so genannte synaptische Potenzierung bildet sich eine „Gedächtnisspur“, die sich als Schmerzgedächtnis im Rückenmark ausbildet. Die Schmerzempfindung kann als chronischer Schmerz selbst dann bestehen bleiben, wenn der Auslöser der akuten Schmerzreaktion nicht mehr vorhanden ist. Man spricht ebenfalls von chronischem Schmerz, wenn die individuelle Schmerzempfindung von der objektiv zu erwartenden Schmerzstärke deutlich nach oben abweicht.
Per Definition dauern chronische Schmerzen mindestens sechs Monate an und beeinträchtigen den Patienten physisch, psychisch-kognitiv und sozial. Die Prävalenz chronischer Schmerzen ist schwer exakt zu ermitteln. Je nach Untersuchung und Definition beträgt sie in Deutschland zwischen sechs und 17%.
Schmerzgedächtnis ade – im Tierversuch ist es möglich
Schmerzforschern der Medizinischen Universität Wien und der Universitätsmedizin Mannheim ist es nun im Tierversuch an Ratten gelungen, das Schmerzgedächtnis dauerhaft zu löschen. Sie erreichten dies mit einer hoch dosierten Gabe von Opioiden (Remifentanil, 450µg/kg/Std.). Remifentanil ist ein potentes Opioid mit schnellem Wirkeintritt und kurzer Wirkdauer. Es besitzt schmerzlindernde und sedierende Eigenschaften und wird daher im Rahmen chirurgischer Eingriffe und in der Intensivpflege angewandt. Bislang war nicht bekannt, dass mit Opioiden auch die Ursache von Schmerzen behoben werden kann. Bei Versuchstieren wurden in tiefer Narkose Schmerzfasern kontrolliert erregt und die Gedächtnisbildung im Rückenmark aufgezeichnet. Eine hoch dosierte Kurzzeittherapie mit Remifentanil verursachte Veränderungen an den Synapsen, die die zelluläre Gedächtnisspur im Rückenmark löschen konnte. Studien mit chronischen Schmerzpatienten sind an der Medizinischen Universität Wien bereits in Planung. Sollte sich das Potential dieser Methode auch dort bestätigen, könnte das einen Paradigmenwechsel in der Schmerztherapie bedeuten: es wäre möglich, Schmerzen nicht mehr nur symptomatisch zu behandeln, sondern die Ursache dauerhaft zu beseitigen.
In den Experimenten der Studie wurden schmerzempfindliche C-fasern kurzfristig mit elektrischen Reizen oder Capsaicin maximal erregt. Auf diese Weise wurde ein Schmerzgedächtnis erzeugt. Es bewirkte eine synaptische Plastizität, doch ob das auf diese Weise erzeugte Schmerzgedächtnis mit der Situation in Patienten mit chronischen, teilweise seit Monaten oder Jahre andauernden Schmerzen vergleichbar ist, ist unklar. Dr. Justus Benrath von der Universitätsmedizin Mannheim und Mitautor der Studie erklärt aber: „Schmerzgedächtnis ist gleich Schmerzgedächtnis, egal auf welche Weise es entsteht.“ Daher hofft er, dass sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen.
Auch wenn die Methode beim Menschen erfolgreich das Schmerzgedächtnis löschen kann, bleibt abzuwarten, ob es unerwünschte Wirkungen der Behandlung gibt. Selbst wenn bei einer nur kurzfristigen Gabe die Möglichkeit einer Abhängigkeit – wie bei Opioiden immer gegeben – gering ist, muss erst noch sichergestellt werden, dass die Behandlung tatsächlich zum dauerhaften Erfolg führt.
Chronische Schmerzen sind schwer zu behandeln
Bisher ist die Therapie chronischer Schmerzen noch immer sehr schwierig. Bei 13 bis 51% der Betroffenen ist die Schmerzbehandlung unzureichend, obwohl verschiedene Wege der Therapie genutzt werden: Konservative Methoden wie Physiotherapie, Psychotherapie oder verschiedene Methoden der alternativen Medizin sind wichtige Standbeine der Therapie. Hinzu kommt in der Regel die Behandlung mit Arzneimitteln (Paracetamol, Antiphlogistika, Codein, Morphin usw.). Bringen diese Methoden nicht den erwünschten Effekt oder verhindern Nebenwirkungen der Medikamente eine effektive Behandlung, können Neurostimulation oder intrathekale Arzneimittelinfusionen sinnvoll sein. Als letzte Option existiert die Operation, bei der versucht wird, mittels einer Nevenblockade die Weiterleitung der Schmerzsignale an das Gehirn zu verhindern. Sie ist jedoch nur sinnvoll, wenn die Schmerzursache operativ behebbar, also eine Folge von „handfesten“ organischen Veränderungen ist.
Das Schmerzgedächtnis zu löschen gestaltet sich noch schwieriger. Je nach Schmerzart und –ursprung kommen neben den oben genannten Methoden psychologische Behandlungsformen wie Stress- und Schmerzbewältigungstraining oder Hypnotherapie in Frage. Beim so genannten „Relearning“ versucht man, das Schmerzgedächtnis durch positive neue Erfahrungen zu überschreiben. Dazu muss sich der Patient unter Schmerzmitteltherapie in die eigentlich schmerzhaften Situationen begeben. Durch die Schmerzfreiheit in der bisher schmerzhaften Bewegung, wird der Patient sozusagen überrascht. Kann die positive Erfahrung oft genug wiederholt werden, ist die Basis für eine Auslöschung des Schmerzgedächtnisses gelegt.
Vorbeugen ist besser als Heilen
Fachleute sind sich heute einig, dass viele chronische Schmerzerkrankungen vermieden werden könnten, wenn akute Schmerzen möglichst rasch und effektiv behandelt werden. Wurde früher davon ausgegangen, dass ein wenig Schmerz nicht schaden könne, sieht man die Lage heute anders: um die Entstehung eines Schmerzgedächtnisses und eine Chronifizierung zu vermeiden, erfolgt nun von Beginn an eine tiefgreifende und umfassende Schmerzanamnese und eine individuelle Optimierung der Behandlung. Denn je länger Schmerzen bestehen, desto schwieriger und langwieriger ist der Weg bis zur Schmerzfreiheit. In manchen Fällen ist gar nur eine Schmerzreduktion möglich. Die alte Volksweisheit „Vorbeugen ist besser als Heilen“ gilt demnach besonders bei der Schmerzbehandlung.