Schädigungen des Sehnervs treten häufig als Folge eines Schlaganfalls in der Netzhaut auf, Betroffene können nur noch einen Teil ihrer Umwelt sehen. Forscher haben nun eine schonende Methode entwickelt, die die visuellen Fähigkeiten der Patienten deutlich verbessert.
Früher dachte man, dass Gehirnschäden und die damit verbundenen neurologischen Ausfälle unumkehrbar wären. Doch seit einiger Zeit mehren sich die Hinweise, dass das Gehirn prinzipiell in der Lage ist, Schäden zu reparieren. Immer mehr Wissenschaftler versuchen deswegen nicht-invasive Verfahren zu etablieren, die die Reparaturfähigkeit des Gehirns unterstützen und verstärken können. Einem Forscherteam aus Magdeburg und Berlin konnte nun zeigen, dass Patienten mit einer Gesichtsfeldeinschränkung von einer Wechselstrom-Therapie profitieren können. Wie Professor Bernhard Sabel und seine Kollegen im Fachblatt "Brain Stimulation" mitteilen, verbesserten sich bei den Betroffenen schon nach kurzer Behandlungsdauer die Sehleistung und die sehbezogene Lebensqualität. An der gemeinsamen Studie der Universität Magdeburg und der Charité in Berlin nahmen 42 Patienten teil, die alle aufgrund von Sehnervschädigungen schon längere Zeit an Einschränkungen ihres Gesichtsfelds litten. Die Patienten wurden nach dem Zufallsprinzip auf zwei Gruppen verteilt. Weder die Patienten noch die Forscher wussten, wer zu welcher Gruppe gehörte. Über einen Zeitraum von zehn Tagen bekamen die Studienteilnehmer entweder eine Behandlung mit Wechselstrom oder eine Placebobehandlung für jeweils 30 bis 40 Minuten täglich. Patienten spüren keinen Schmerz Vor jeder Therapiesitzung klebten die Forscher ihnen oberhalb der Augenbrauen und neben den Nasenflügel Elektroden auf die Haut. „Durch die Elektroden fließt ein schwacher elektrischer Strom mit einer Stromstärke von weniger als einem Milli-Ampere in den Sehnerv“, sagt Sabel, der Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie an der Magdeburger Universität ist. „Die Prozedur ist schmerzfrei – manche Patienten spürten ein leichtes Kribbeln auf der Haut.“ Am Studienbeginn und im Anschluss nach der letzten Behandlung maß das Team um Sabel das Gesichtsfeld der Teilnehmer: Für diesen Zweck ließen sie vor den Augen der Probanden nacheinander einzelne Lichtpunkte aufblitzen und diese mussten angeben, ob sie die Lichtblitze erkannten oder nicht. „Bei den Patienten, deren Sehnerv durch den Wechselstrom angeregt wurde, führte die Behandlung durchschnittlich zu einer 40-prozentigen Verbesserung des vorher erblindeten Bereichs“, sagt Sabel. „Ein Drittel dieser Patienten sprach sehr stark und anhaltend auf die Therapie an, ein Drittel moderat und ein Drittel nicht oder nur sehr wenig.“ Bei den Patienten aus der Placebogruppe, die nur zum Schein einer Behandlung unterzogen wurden, war keine Verringerung des Gesichtsfeldausfalls zu erkennen. Allgemeine Sehkraft verbessert sich ebenfalls Zusätzlich mussten alle Teilnehmer nach der Behandlung einen standardisierten Fragebogen ausfüllen, mit dessen Hilfe sie beurteilen sollten, wie stark sich ihre Sehleistung generell verbessert hatte. Alle mit Wechselstrom behandelten Probanden schilderten, dass ihre allgemeine Sehkraft zugenommen hatte. Dieser Anstieg war umso größer, je deutlicher die Reduktion des zuvor diagnostizierten Gesichtsfeldausfalls ausgefallen war. Sabel: „Anscheinend lässt sich das visuelle System sehr viel leichter modifizieren, als wir es bisher angenommen haben.“ Der Magdeburger Forscher vermutet, dass im Bereich dieses Systems neuroplastische Veränderungen durch die Stimulation mit Wechselstrom angeregt werden, die zur Vergrößerung des vorher eingeschränkten Gesichtsfelds führen. „Die Stromreize sorgen vermutlich dafür, dass die Neuronen im zuständigen Gehirnareal intensiver feuern und ihre Verbindungen untereinander verstärkt werden“, sagt Sabel. Er geht davon aus, dass die Methode wahrscheinlich auch bei anderen neurologischen Ausfällen funktioniert. Zurzeit erprobt sein Team, ob Wechselstromreize auch zur Verbesserung der Sprachfähigkeiten von Aphasie-Patienten beitragen können. Biotech-Firma entwickelt marktfähiges Therapiegerät Sabel ist neben seiner akademischen Tätigkeit auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirats das Biotech-Unternehmen EBS Technologies. Das in Kleinmachnow bei Berlin ansässige Unternehmen hat sich das Ziel gesetzt, ein nicht-invasives Therapiegerät zu entwickeln, das auf den Ergebnissen von Sabels Forschungen basiert, und zukünftig für die Behandlung von Patienten mit funktionellen Störungen nach einem Schlaganfall oder Hirntrauma eingesetzt werden soll. Andere Experten stehen dem neuen Verfahren vorsichtig optimistisch gegenüber: „Es ist eine elegante und schmerzlose Methode, um mit dem Gehirn zu interagieren“, findet Professor Stephan Brandt, stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie an der Berliner Charité. „Allerdings handelt es sich bei den Fällen in der vorliegenden Studie um keine reine Gehirnstimulation, da auch der Sehnerv mit angeregt wird.“ Inwieweit diese Ergebnisse, so der Neurologe, auf andere Funktionsausfälle des Gehirns übertragbar seien, müsse deswegen in weiteren Studien noch gezeigt werden.