Watson wechselt die Profession – er stellt seine Leistungen in den Dienst der Medizin. Der IBM-Hochleistungsrechner könnte Intensivstationen sicherer machen und medizinische Informationen besser erschließen.
Nachdem EDV-Supergenie Watson beim TV-Quiz „Jeopardy“ mehrere Favoriten geschlagen hatte, war das Interesse von Krankenkassen und Kliniken und Ärzten erwacht. Mitte 2011 keimte die Hoffnung auf, medizinische Daten besser erschließen zu können, aber auch Therapien unter evidenzbasierten Kriterien zu optimieren, Einsparung inklusive. Reine Science-Fiction-Träume? Sicher nicht – knapp ein Jahr später berichten Wissenschaftler von ersten Anwendungen, zwar noch im Versuchsstadium, dafür aber umso vielversprechender.
Virtueller Wächter
Kanadische Pädiater etwa nutzen Watsons wachsamen Blick bei kritischen Patienten. „Babys auf Intensivstationen sind zwar von Technik umgeben, um ihre Vitalfunktionen zu überwachen, aber viele der Daten werden verschwendet“, weiß Dr. Carolyn McGregor von der Universität Toronto. Bekanntlich produzieren Messgeräte einen kontinuierlichen Datenstrom, dieser wird aber nur in größeren Zeitabständen ausgewertet: Sehen Pflegekräfte einmal pro Stunde nach dem Rechten, fallen 99 Prozent aller Messpunkte unter den Tisch. Hier kommt der Hochleistungsrechner ins Spiel: Carolyn McGregor hat für Watson eine Software namens „Artemis“ programmiert, um EKG, Puls, Atmung, Sauerstoffsättigung, Körpertemperatur und Blutdruck am Bett der kleinen Patienten lückenlos zu erfassen. Mit speziellen Algorithmen erkennt das elektronische Genie anhand von Abweichungen mögliche Vorboten einer Infektion – 24 Stunden, bevor das Ärzte oder Krankenpfleger können. Für die Praxis ein gewaltiger Schritt nach vorne: Bislang berichteten McGregors Kollegen häufig von falsch-positiven Resultaten. Man reagierte übervorsichtig, packte chemische Keulen oftmals umsonst aus – und blockiere sinnlos viele Intensivbetten.
Datenströme und Computerwolken
Den technischen Hintergrund des Patientenmonitorings beschreibt Lipyeow Lim vom Information and Computer Science Department der Universität Hawaii: „Damit können Daten, die zu schnell ankommen, um auf einer Festplatte gespeichert zu werden, trotzdem ausgewertet werden.“ Lim hat sein Handwerk in den T.J. Watson-Labors von IBM gelernt und entwickelt jetzt Systeme an der Hochschule weiter, unter anderem für Neugeborenen-Intensivstationen. „Ein Baby allein ließe sich auch mit klassischen Systemen und Datenspeichern überwachen“, weiß der Forscher. „Die Herausforderung sind aber gerade viele Babys.“ Für Artemis und Watson gibt es deshalb große Pläne: Lim versucht, mit Cloud Computing, sprich der Bereitstellung von Rechenleistung über räumliche Distanzen hinweg, auch Einrichtungen mit schlechterer IT-Infrastruktur zu überwachen. Das funktionierte bereits mit einem Krankenhaus in Rhode Island, über eine sichere Verbindung gelangten alle Parameter heil bis in Lims Labor. Auch zwei Klinken in China haben bereits Interesse signalisiert. IBM-Projektleiter David Ferrucci kann sich aber noch ganz andere Aufgaben für Watson vorstellen, nämlich die Analyse medizinischer Informationen.
Quellen angezapft und ausgewertet
Ferruccis Ziel: wissenschaftliche Literatur, Aufzeichnungen und Patientenakten nutzen, um Kollegen in Echtzeit bei der Diagnostik und Therapie zu unterstützen. In der Praxis hat das seine Berechtigung: „Kein Gehirn kann sich alle Informationen merken“, so Janet Dillione von der Healthcare-Sparte der Firma Nuance. Zusammen mit IBM arbeitet sie an technischen Möglichkeiten, um Daten wie Texte, Bilder oder auch Sprache zu verarbeiten. Watson sei als erstes System in der Lage, große Mengen an medizinischen Informationen sinnvoll zu verknüpfen. Ein faszinierender Gedanke: Kollegen in Praxis und Klinik könnten von den Erfahrungen anderer Ärzte profitieren, ohne aufwändige Recherchen in Datenbanken oder Archiven. Und neueste Studien aus der Fachliteratur stünden quasi in Echtzeit zur Verfügung.
Diesen Vorteil wollen Ärzte am Cedars-Sinai-Krankenhaus in Los Angeles für die Krebstherapie nutzen. Aus einem wahren Schatz an Fallstudien und Patientenakten hätte Watson Fähigkeiten, die beste Krebstherapie auswählen, individuell auf Patienten zugeschnitten. Dazu reiche laut Stephen Gold von IBM bereits eine weitaus geringere Leistungsfähigkeit als bei „Jeopardy“-Quiz aus: „Für einen Arzt ist es nicht relevant, ob die Antwort in sechs oder zehn Sekunden kommt.“
Ein Watson für alle Fälle
Nach ersten Erfolgen haben viele Kliniken mittlerweile Interesse an Watsons medizinischer Ermittlungsarbeit bekundet, sehen aber immense Kosten auf sich zukommen. IBM-Entwickler Tony Pearson relativiert: Ein IBM Power 750 Express-Server kostet knapp 35.000 US-Dollar. Für das Setting aus der Fernsehshow werden 90 Exemplare, sprich etwas mehr als drei Millionen US-Dollar benötigt – eine durchaus übliche Größenordnung für Investitionen an einer Klinik. Damit ließen sich in weniger als drei Sekunden sage und schreibe 200 Millionen Seiten an Fachartikeln zu durchforsten. Wenn sich Kollegen aber mit 30 Sekunden Wartezeit bis zum Resultat zufrieden geben, sinken die Ausgaben sogar auf 300.000 US-Dollar. Und Praxen könnten bereits mit einem einzigen Gerät ihre Behandlung optimieren, dann heißt es aber, zwei Stunden auf die Resultate zu warten, was – je nach Fall – auch nicht im Bereich des Unmöglichen liegt.
Schöne neue Welt
Bei aller Euphorie werden dennoch kritische Stimmen laut. „Ärzte und Krankenschwestern sind möglicherweise nicht daran interessiert, nur eine Antwort, sondern auch die Gründe dafür zu erfahren“, vermutet Rohit Kate, Professor für Informatik und Computerwissenschaften an der Universität von Wisconsin. Watson müsste seine Analysen also rechtfertigen, beispielsweise durch die Angabe von Quellen, allein schon als Absicherung gegen technische Fehler. Auch ist mit generellen Ängsten der Kollegen zu rechnen. Kate: „Einige fürchten, dass ihr Know-how durch eine Maschine ersetzt wird.“ Ganz von der Hand weisen lässt sich diese Sorge sicher nicht, hat die Vergangenheit letztlich gezeigt, dass Rechner in der Tat Arbeitsplätze vernichten, aber auch neue, höher qualifizierte Jobs schaffen.