Es ist noch ziemlich früh, im Stationszimmer der chirurgischen Ambulanz türmen sich allerdings schon jetzt die Akten. Eine Stationsschwester ruft Dr. Oliver P. zu: „Da sitzt eine junge Dame draußen für dich. Schon muss er einen neuen Fall lösen - und Ihr könnt helfen!
Dr. O.P. schnappt sich die Akte und ruft Frau Eva S. in Kabine 4. Herein kommt eine junge, sportliche Patientin die schon beim Eintreten ihre rechte Hand in Schonhaltung am Körper hält. Also mal sehen - denkt Dr. O.P. und legt mit der Aufnahme los.
Anamnese:
Die Patientin gibt an, schon seit mehreren Monaten immer stärkere Schmerzen im rechten Handgelenk zu haben, vor allem treten diese nachts auf. Seit einigen Wochen sei das Gefühl in Daumen, Zeige- und Mittelfinger ein wenig verlorengegangen, es würde manchmal „kribbeln, als ob Ameisen über ihre Hand laufen“. Normal seien die Beschwerden immer verschwunden, wenn sie in der Früh die Hand kräftig ausgeschüttelt habe aber in den letzten Tagen seien sie auch tagsüber vorgekommen, vor auch allem die Taubheit, und seien schwer kontrollierbar gewesen. Frau S. ist keine „Arztgängerin“ wie sie angibt. Sie war immer gesund und treibe viel Sport. Das ärgere sie eigentlich am meisten: Sie könne wegen der Sache mit der Hand mittlerweile gar nicht mehr richtig für das Tennismatch trainieren, das in drei Wochen in ihrem Club stattfinde. Außerdem falle ihr das Arbeiten im Atelier – sie sei gelernte Schneidermeisterin – immer schwerer. Medikamente nehme sie – außer in letzter Zeit ab und zu verschiedene Schmerzmittel - keine ein. Sie rauche nicht und trinke ab und zu ein Gläschen Wein. Die Frage nach einer möglichen Schwangerschaft verneint sie.
Körperliche Untersuchung: Eva S. ist 29 Jahre alt, in gutem AZ und sportlichem EZ (1,68 m, 52 kg). Sie ist zu allen Qualitäten orientiert, scheint mäßige Schmerzen zu haben bei Schonhaltung des rechten Handgelenks. T 36,6°C, RR 110/75, HF 57. Die Untersuchung von Herz, Lunge und Abdomen stellt sich bei Frau S. wie erwartet unauffällig dar. Die rechte Hand lässt sich nur unter Schmerzen untersuchen. Der Daumenballen wirkt im Vergleich zur anderen Hand schon bei Inspektion leicht atrophisch, die Oppositionsbewegung kann Eva S. kaum ausführen. Die Durchblutung und die Handpulse stellen sich als normal dar. Bei Beklopfen der palmaren Seite des Handgelenks bei extendierter Hand gibt die Patientin Schmerzen „wie bei einem elektrischen Schlag“ an. Diese Aussage scheint die endgültige Bestätigung für den Verdacht von Oliver P. Trotzdem geht er alle möglichen Ursachen des Krankheitsbildes durch.
NUN BIST DU DRAN - WAS WÄREN DEINE DIFFERENTIALDIAGNOSEN?
Differentialdiagnosen:
Tatsächlich präsentiert sich Frau Eva P. mit einem sehr klassischen Befund. Trotzdem müssen immer alle möglichen Ursachen berücksichtigt werden:
Also CTS, denkt sich Oliver P. Er könnte zusätzlich zum „Hoffmann-Tinel-Zeichen“ noch das „Flaschenzeichen“ testen. Hier wird dem Patient eine Falsche (oder ähnliches) in die Hand gegeben, bei CTS und damit zusammenhängender Parese des M. abductor pollicis brevis kann er den Gegenstand in der Regel nicht richtig festhalten. Auch das „Pahlen-Zeichen“ wäre sicher positiv: Bei aufgestelltem Ellenbogen wird hier das Handgelenk maximal extendiert wobei es nach ca. einer Minute in den ersten drei Fingern zu den beschriebenen Missempfindungen kommt.
Aufgrund der Schmerzen verschont er die Patientin damit allerdings lieber, seine Bestätigung findet er zu genüge in der eindeutigen Anamnese: Die vor allem nächtlich auftretenden Schmerzen („Brachialgia nocturna“) und Parästhesie mit Besserung durch Ausschütteln, die Daumenballenatrophie sowie die Hypästhesie im Bereich des Medianus-Gebietes sind ganz klare Anzeichen für das CTS. Das Schneidern und das Tennisspielen erklären die Genese der Beschwerden.
Oliver P. geht im Kopf nochmal sein Grundwissen zum CTS durch: Der Karpaltunnel wird gebildet aus den Handwurzelknochen und dem darüber wie ein Dach gespanntem Retinaculum flexorum (Lig. Carpi transversum). Durch ihn laufen der N. medianus und die Sehnen der langen Fingerbeuger. Meist durch eine anatomisch vorhandene Enge des Karpaltunnels, die durch eine Schwellung aufgrund mechanische Belastung verstärkt wird, wird eben jener N. medianus komprimiert und verursacht so die beschriebenen Beschwerden.
Ursächlich kommen hier ganz verschiedenes in Frage: Bei unserer Patientin liegt vermutlich eine Veranlagung sowie Überbeanspruchung durch ihre Arbeit und das exzessive Tennisspiel vor. Weitere mechanische Belastungen können alle möglichen handwerklichen Tätigkeiten sein sowie auch das Gehen mit Unterarmgehstützen. Außerdem können eine hormonelle Umstellung (Wechseljahre, Schwangerschaft), endokrine Erkrankungen (Diabetes mellitus, Urämie, Hyperurikämie, Hypothyreose) und Alkoholismus dem Syndrom zugrunde liegen. Handgelenksarthrose und Traumen aller Art im Bereich des Handgelenks stellen selbstverständlich auch eine Ursache dar. Frauen sind dabei dreimal häufiger betroffen als Männer.
WIE GEHT’S ALSO WEITER! WAS IST NUN ZU TUN? AN WELCHE DIAGNOSTIK SOLLTE DR. O.P. DENKEN?
Diagnostische Maßnahmen:
Oliver P. schickt die Patientin zum Ausschluss einer Fraktur erst mal zum Röntgen des Handgelenks in 2 Ebenen: Das Bild zeigt keinen pathologischen Befund, keine Frakturlinien. Dann fährt er gleich das volle Programm:
Alle Untersuchungsbefunde bestätigen die Diagnose. Nun überlegt Dr. O.P.: Wie war nochmal die Einteilung des CTS und was hat diese mit dem weiteren Procedere zu tun?
WIE WERDEN DIE SCHWEREGRADE DES CTS NOCHMAL EINGETEILT UND WELCHE BEHANLUNGSMÖGLICHKEITEN GIBT ES?
Das CTS wird nach Gerl und Fuchs in vier Stadien eingeteilt:
Eva S. ist gerade noch ein Stadium III-Fall. Allerdings macht das fürs Procedere garkeinen Unterschied: Konservativ wird nur das Stadium I behandelt. Wäre Eva S. früher gekommen, wäre eine nächtliche Ruhigstellung der Hand mittels Unterarmgipsschiene oder spezieller Dehnschiene denkbar gewesen. Zusätzlich kann bei der konservativen Therapie Kortison im Bereich des Karpaltunnels eingespritzt werden. Ab Stadium zwei wird ein operativer Eingriff empfohlen, um eine dauerhafte Schädigung zu vermeiden. Dr. O.P. kann seine Patientin jedoch beruhigen: Der Eingriff wird ambulant durchgeführt und wird nur wenige Minuten dauern. Zusammen mit einem Handchirurgen wird Dr. O.P. hier selbst anlegen und vereinbart mit Eva S. gleich den nächstmöglichen Termin.Procedere:
Die OP kann in Lokalanästhesie oder Vollnarkose durchgeführt werden. Da bei Frau S. keine Indikation zu einer Vollnarkose besteht, die immer mehr Risiken birgt, wird eine Lokalanästhesie über den Plexus brachialis vorbereitet. Es wird eine Blutsperre am Oberarm angelegt, um sauber arbeiten zu können und Blutverlust zu minimieren. Bei Frau S. wird das offene Verfahren angewendet, wobei eine kurze Inzision distal der Handgelenksquerfurche vorgenommen wird (alternativ wäre ein ca. 3 cm langer Schnitt in der Hohlhand möglich). Das Lig. carpi transversum wird freigelegt und in Längsrichtung vollständig durchtrennt. Hier ist höchste Vorsicht geboten, den N. medianus nicht zu verletzen. Bei rezidivierenden Beschwerden ist eine Epineurotomie (Eröffnung der Bindegewebshülle um den N.medianus) ratsam, die beim Ersteingriff bei Frau S. allerdings unterlassen wird. Eine endoskopisches Herangehen ist bei diesem Eingriff ebenfalls denkbar, allerdings gibt es keine eindeutigen Vor-/ oder Nachteile und das Risiko einer Nervenschädigung ist bei letzterem ca. doppelt so hoch.
Komplikationen
Der Eingriff birgt – neben den allgemeinen Risiken wie z.B. Wundheilungsstörungen, Nachblutungen, Infektion oder Verletzung von Nerven, Sehnen und Blutgefäßen – sehr wenige Risiken. Manchmal ist der Übergang von einer endoskopischen zur offenen Technik aufgrund unübersichtlicher Anatomie oder Blutungen notwendig. Der N. medianus und der N. ulnaris sowie ihre Seitenäste müssen mit äußerster Vorsicht umgangen werden. Postoperativ kann eine Minderung der groben Kraft auftreten und der sehr seltene Morbus Sudeck (Algodystrophie), bei dem es zu Weichteilschwellung mit langfristigen Schmerzen und Funktionseinschränkungen kommen kann. Bei ca. 1-6% der Patienten kommt es zu Rezidiven.
Postoperative Versorgung
Postoperativ wird noch einmal die Funktionsfähigkeit des N. medianus überprüft. Für zehn Tage bekommt Eva S. einen Watteverband angelegt, zu dessen Wechsel sie die ersten fünf Tage in der Ambulanz erscheinen muss. Die Entfernung des Nahtmaterials erfolgt am zehnten postoperativen Tag. Zur eventuellen Schmerzbekämpfung wird ihr die Einnahme eines NSAR empfohlen sowie Anwendung eines Kältekissens. Bereits am ersten postoperativen Tag sollten leichte Beugeübungen der Finger ausgeführt werden um Ödeme oder Versteifungen zu vermeiden. Die Patientin ist zwar etwas verärgert, dass eine Teilnahme am Tennisturnier nun ausgeschlossen ist, zeigt sich aber auch sichtlich erleichtert und dankbar aufgrund der sofortigen Beschwerdefreiheit. Nach 3-6 Monaten wird ihr ein Kontroll-EMG angeraten.
Auch Dr. O.P. ist wiedermal froh, einen Patienten erfolgreich behandelt zu haben und beschwerdefrei entlassen zu können. Ein bisschen schade schon – Eva S. hätte ihm doch ganz gut gefallen. Aber Privates und Berufliches wird natürlich streng getrennt. Vielleicht schaut er ja mal in diesem Tennisclub vorbei... Er rechnet sich schnell aus: nach spätestens vier Wochen sind Patienten nach der Spaltung des Retinaculums normalerweise wieder voll arbeitsfähig - in spätestens drei Monaten steht Eva S. sicherlich schon wieder auf dem Platz – er hofft nur, dass sie vernünftig ist und die Hand nicht zu schnell wieder zu viel belastet.