Es hätte so gut laufen können, das neue Modell zur Arzneimittelversorgung: getragen von allen Gesundheitsberufen, zum Wohl der Patienten. Kurz vor Testbeginn sprangen jetzt die Ärzte Westfalen-Lippes ab. Mediziner und Apotheker arbeiten parallel an eigenen Konzepten – wie gehabt im Alleingang.
Bei jeder Arzneimitteltherapie gibt es einen ganz entscheidenden Störfaktor: den Patienten. Bekommt er zu viel verordnet, interagieren vielleicht manche Wirkstoffe. Fraglich bleibt auch, ob er seine Medikamente überhaupt schluckt, inklusive richtiger Dosierung und passendem Zeitpunkt.
Von untreuen Patienten
Untersuchungen zu diesem Thema liefern wenig ermutigende Daten: Je mehr Pillen und Tropfen Ärzte verschreiben und je länger die Behandlung dauert, desto mehr sinkt auch die Therapietreue. Nehmen zu Beginn einer jeden Behandlung noch etwa 70 Prozent ihre Medikamente korrekt ein, sinkt der Wert bei chronisch Kranken auf rund 50 Prozent oder weniger. Besonders kritisch: Schicken Erkrankte ihre Arzneien eigenmächtig in die Wüste, schnellen Morbidität und Mortalität drastisch in die Höhe. Wie Professor Dr. Irene Krämer, Direktorin der Apotheke der Universitätsmedizin Mainz, berichtet, verdreifacht Non-Compliance beispielsweise nach einer Nierentransplantation das Risiko möglicher Abstoßungsreaktionen. Auch die Krankheit selbst hat ihren Einfluss: Sollten sich Patienten subjektiv gesund fühlen, etwa bei Hypertonien oder psychiatrischen Leiden, führen Apotheker sogar jeden zweiten Therapieversager auf Fehler beim Einnehmen zurück. Das bleibt nicht ohne Folgen: Laut ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände summieren sich Schäden durch überflüssige Änderungen der Therapie und Krankenhauseinweisungen auf mehrere Milliarden Euro pro Jahr. Weitere Einbußen entstehen durch die Polypharmazie.
Viel hilft viel?
Wie das Deutsche Arzneiprüfungsinstitut (DAPI) berichtet, erhalten etwa ein Viertel aller gesetzlich Versicherten fünf Arzneistoffe oder mehr in Dauertherapie, ergänzt durch OTCs sowie Nahrungsergänzungsmittel. Mit der Zahl an Arzneistoffen steigt naturgemäß auch die Gefahr von Interaktionen, speziell, wenn niemand mehr den Überblick hat: Zwei von drei multimorbiden Patienten holen laut DAPI ihre Rezepte von mindestens zwei verschiedenen Fachärzten ab. Die Folgen: ABDA-Chef Heinz-Günter Wolf schätzt, dass etwa fünf Prozent aller Krankenhausaufnahmen auf unerwünschte Effekte zurückzuführen sind, bei geriatrischen Patienten sogar bis zu 30 Prozent. Um Abhilfe zu schaffen, müssen Apotheker und Ärzte stärker kooperieren, wie ein Modellprojekt in Krefeld gezeigt hat. An der Machbarkeitsstudie „Häusliches Medikationsmanagement bei multimorbiden Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus“ nahmen 47 Patienten, sieben Ärzten und eine Apotheke teil. Zusammen analysierten sie arzneimittelbezogene Probleme und fanden vor allem pragmatische Lösungen. In der Folge traten gefährliche Unterzuckerungen weitaus seltener auf - ein Musterbeispiel, das sich auch bundesweit umsetzen ließe.
Gemeinsam statt gegeneinander
Hier kommt das ABDA/KBV-Modell gerade recht: Unter dem Dach eines Medikationsmanagements mit kontinuierlicher Betreuung der Patienten verbergen sich zwei tragende Säulen. Anstelle von Arzneimitteln würden Ärzte künftig nur noch Wirkstoffe verordnen. Das beinhaltet Dosierung sowie Therapiedauer und Darreichungsform. Mit diesen Informationen könnten Apotheker passende Präparate auswählen, vor allem jedoch stärker pharmazeutisch aktiv werden. Patienten wiederum bekämen einen detaillierten Therapieplan, wichtig in Sachen Compliance. Das Konstrukt wäre auch bei Rabattverträgen hilfreich: In der Praxis führen Substitutionen bei Medikamenten mit geringer therapeutischer Breite aufgrund unterschiedlicher Bioverfügbarkeit schnell zu unerwünschten Ereignissen – besser vorher eingreifen als nachher den Schaden reparieren. Neben der Wirkstoffverordnung plädieren ABDA und KBV für bundesweit einheitliche Medikationskataloge. Diese listen alle relevanten Wirkstoffe unter Kriterien der Wirtschaftlichkeit und Evidenz, inklusive Reservemittel: ein umfangreiches Paket, um die Compliance zu erhöhen sowie arzneimittelbedingte Risiken zu minimieren. Ganz klar, auch die Kostendämpfung spielt eine Rolle: Beide Partner sehen nach der stufenweisen Einführung des ABDA/KBV-Modells Einsparpotenziale von rund 2,1 Milliarden Euro bis 2014. Doch momentan wollen nicht alle mitspielen.
Ärzte scheren aus
Obwohl 22 EU-Staaten die Wirkstoffverordnung eingeführt haben, größtenteils auf freiwilliger Basis, scheint das in Deutschland nicht zu funktionieren. Schnell wurde das böse Wort „Positivlisten“ geäußert, also verpflichtende Aufstellungen von Pharmaka, Therapiefreiheit ade. Dem widersprachen Vertreter der KVB ganz entschieden – vielmehr sei der Medikationskatalog eine Empfehlung auf Basis von Leitlinien. Nichtsdestotrotz hagelte es weitere Vorwürfe: Standespolitiker monierten den „Kompetenzverlust für Verordner“, witterten „Apothekenförderprogramme“ (Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands) und sahen sich selbst die „Therapiehoheit am Counter der Apotheke abgeben“ (Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg). Durch den Rücktritt von KBV-Vize Dr. Carl-Heinz Müller verlor die Ärzteschaft zu allem Unglück auch noch einen glühenden Verfechter der Wirkstoffverordnung.
Testregion händeringend gesucht
Davon ließen sich die Väter des ABDA/KBV-Modells nicht beeindrucken, schließlich hatte Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz eine klare Marschrichtung vorgegeben: Modellvorhaben starten, aber nur in einem Kammerbezirk, und nach drei Jahren evaluieren. Westfalen-Lippe war begeistert, Mitte Februar lehnte die Vertreterversammlung der regionalen KV aber dankend ab. Kritisiert wurden einerseits Vorschläge zur Honorierung, Ärzte und Apotheker hätten sich einen Obolus teilen müssen. Andererseits bewertete man das Arzneimittelmanagement als ureigenstes Metier der Mediziner. Für die Sache ist das ziemlich bitter, hätte gerade besagter Kammerbezirk mit ländlichen und urbanen Strukturen interessante Versorgungsdaten geliefert. Bald darauf kamen ähnliche Töne von der KV Schleswig-Holstein, bleiben Sachsen und Thüringen als interessierte Bundesländer – noch, wohlgemerkt.
Weiter auf Alleingang
In der Zwischenzeit denken Ärzte aus Westfalen-Lippe laut über eigene Konzepte zum Arzneimittelmanagement nach. Im Gespräch ist, dass eine pharmazeutische Beratung bereits in der Praxis stattfinden könnte und vor Ausstellung eines Rezepts Rabattverträge ebenfalls zu prüfen sind. Kein Einzelfall: Im Rahmen verschiedener Beratungskonzepte haben auch die Techniker Krankenkasse oder die KKH Allianz Angebote entwickelt, bei denen Ärzteteams Medikationschecks durchführen. Apotheker suchen sich ebenfalls eigene Wege: Bereits 2007 hat beispielsweise die AOK Rheinland/Hamburg mit dem Apothekerverband Nordrhein und dem Hamburger Apothekerverein Kooperationsvereinbarungen abgeschlossen. Jetzt entschieden Vorstände, das Erfolgsmodell fortzuführen – 2200 Apotheken sind momentan mit dabei und erhalten pro Jahr und Patient 1.200 Euro. Dafür begleiten sie die Arzneimitteltherapie chronisch Kranker und lösen pharmazeutische Probleme als Folge von Rabattverträgen. Die Testphase zum ABDA/KBV-Modell wird hingegen frühestens Ende 2012 beginnen, sollte alles gut laufen.