Unter den Fachgesellschaften ist ein Streit über das Vorgehen bei neurologischen Notfällen entbrannt: Braucht es spezielle Fachärzte für Notfallmedizin oder sind akute Fälle beim Neurologen besser aufgehoben?
Schlaganfälle, Krämpfe, Meningitiden oder Enzephalitiden – bei neurologischen Notfällen zählt jede Minute. Je nach Klinikschwerpunkt und Region werden zwischen 50 und 90 Prozent aller neurologischen Patienten als Notfälle aufgenommen. Erkennen Kollegen die Krankheit schnell und beginnen umgehend mit entsprechenden Behandlungen, verbessern sich die Prognosen deutlich, wie Studien mit Schlaganfall-Patienten gezeigt haben: Forscher wiesen einen direkten Zusammenhang zwischen der Zeitspanne, die bis Therapiebeginn verloren geht, und dem Behinderungsgrad der Patienten nach. Kein Einzelfall: Auch bei Subarachnoidalblutungen, fortschreitenden epileptischen Anfällen oder akuten Querschnittslähmungen bringt eine möglichst rasche, neurologische Intervention den größten Benefit. Das wird aber immer schwieriger – mittlerweile steigen die Patientenzahlen in der Nothilfe, gerade die Neurologie erlebt einen starken Ansturm und neue Strategien sind gefragt. Deshalb griffen zahlreiche Organisationen rund um Anästhesiologie, Chirurgie, Innere Medizin, Neurochirurgie, Neurologie, Pädiatrie und Radiologie zur Feder.
„Notfallversorgung ist Aufgabe der Fachdisziplinen“
Die am Konsens-Papier beteiligten Fachgesellschaften plädieren für eine zentrale, interdisziplinäre Notaufnahme, lehnen aber eigene Fachärzte ab. Im Gespräch mit DocCheck erläutert der Kieler Professor Dr. Günther Deuschl den Standpunkt der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN): „Die Diskussion um den Facharzt für Klinische Notfallmedizin geht von einer Gruppe von Ärzten aus, die in einigen zentralen Notaufnahmen Leitungsfunktionen übernommen haben und in der Deutschen Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin organisiert sind.“ Diese sähen den größten Mangel der Notfallversorgung in Akutkliniken darin, dass ein entsprechendes Know-how in den behandelnden Fachdisziplinen nicht vorhanden und daher eine spezielle Ausbildung erforderlich sei – sprich Fachärzte für klinische Notfallmedizin. Deuschl: „Alle großen Fachgesellschaften, die viele Notfallaufnahmen zu versorgen haben, wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, sind sich einig, dass die Notfallversorgung Aufgabe der Fachdisziplinen ist und daher in einer zentralen, interdisziplinären Notaufnahme (ZIN) gelöst werden muss.“ Solche ZINs entstehen derzeit an vielen Kliniken, doch warum sollte die Notfallversorgung in den Händen der verschiedenen Fachdisziplinen bleiben, anstatt von Generalisten übernommen zu werden?
Facharzt für Notfallmedizin: „Schritt rückwärts“
Zeitkritisch zu versorgende Notfälle müssen laut DGN gleich zu Beginn vom Spezialisten versorgt werden. „Die Verbesserungen der Behandlung sind durch die Spezialisierung der Notfallversorgung erreicht worden, also Traumazentren, Stroke Units, Chest-Pain-Units und die zugehörigen spezialisierten Therapien“, erklärt Deuschl. Das Modell des Notfall-Generalisten mache diese Verbesserungen zunichte. Auch hängt laut DGN die Qualität von Forschung und Lehre in der Notfallmedizin entscheidend davon ab, ob Notfälle von Spezialfächern behandelt werden, welche die Krankheiten verstehen und das Wissen weitergeben. Neben medizinischen Aspekten steht das liebe Geld ebenso im Mittelpunkt des Disputs. Immer wieder war zu hören, dass eine zentrale Notaufnahme unter separater Leitung durch einen hierfür ausgebildeten Facharzt Einsparpotenziale hätte. Deuschl: „Erste große Kliniken machen diesen Schritt aber bereits wieder rückgängig und organisieren ihre zentralen Notaufnahmen stattdessen interdisziplinär, da durch den Notaufnahmegeneralisten natürlich Personal-Doppelvorhaltungen erforderlich sind, die mehr Geld kosten. Daher ist auch dieses finanzielle Argument nicht korrekt.“ Zusammenfassend bewertet Deuschl einen Facharzt für Notfallmedizin als „Schritt rückwärts“.
Konsenspapier ohne Konsens?
Das sieht die Deutsche Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) anders. Der Streit entzündete sich allein schon an der Tatsache, dass DGINA-Vertreter zur Erstellung des Konsenspapiers nicht eingeladen wurden. „Die Kernaussage, dass jeder Patient mit einem Symptom, das auf eine neurologische Erkrankung hinweisen könnte, primär von einem Neurologen mit Facharztstatus gesehen werden muss, ist in der Versorgungswirklichkeit vieler Krankenhäuser nicht umzusetzen“, so DGINA-Präsident Professor Dr. Christoph Dodt, München, zu DocCheck. In vielen Krankenhäusern mit großem Anteil an Notfallpatienten werde gar keine neurologische Fachabteilung vorgehalten. Dodt: „Es ist nicht das Ziel professioneller Notfallmedizin, die Notfallkompetenzen der unterschiedlichen medizinischen Fachdisziplinen in Frage zu stellen, sondern die Patienten sicher und zielgerichtet der bestmöglichen Therapie durch die geeigneten Spezialisten zuzuführen.“ In dieser Triage sieht der DGINA-Präsident keine Zeitverzögerung, sondern vielmehr eine Beschleunigung, weil Krankheiten, die als besonders risikoreich gelten, auch vordringlich abgeklärt werden. Entsprechende Diagnosealgorithmen umfassen auch neurologische Erkrankungen, „die selbstverständlich nicht nur von Neurologen erkannt werden müssen“.
Durch die Brille des eigenen Fachgebiets
Hingegen befürchtet Christoph Dodt, dass eine rein fachspezifische Sicht Leiden aus anderen Disziplinen möglicherweise ausblende: „Eine professionelle zentrale Notaufnahme wird zum Beispiel selbstverständlich nicht nur die Schenkelhalsfraktur eines alten Menschen als Grund für eine notfallmäßige Krankenhausaufnahme diagnostizieren und einer unfallchirurgischen Operation zuführen, sondern auch einen Morbus Parkinson als Sturzursache erkennen.“ Alle Argumente der DGINA münden in der Etablierung eines Facharztes für Notfallmedizin. Dazu wird ein fünfjähriges Weiterbildungsprogramm vorgeschlagen, ausgerichtet am Curriculum der European Society of Emergency Medicine. Entsprechend dazu haben mittlerweile die meisten EU-Länder diesen Facharzt etabliert, auch die European Union of Medical Specialists (UEMS) geht diesen Weg – nur Deutschland schert aus. In einem Fachartikel stellt Christoph Dodt deshalb auch die Frage, ob sich hinter der ablehnenden Haltung mancher Fachgesellschaften vielleicht eher ein „Ringen um die Besitzstandswahrung“ verbergen könnte. Den Schaden tragen nicht nur Patienten, sondern auch Kollegen: „Es ist juristisch nicht haltbar, dass europäische Notfallmediziner nicht unter dieser Ausbildungsbezeichnung in Deutschland arbeiten dürfen, und umgekehrt deutsche Mediziner, die die Kriterien für einen europäischen Notfallmediziner erfüllen, keine Anerkennung in anderen europäischen Ländern erhalten“, kritisiert Dodt. Aus diesen Gründen machen sich DGINA-Vertreter für eine Weiterbildung zum Facharzt für Notfallmedizin auch in Deutschland stark, zuständig sind die Landesärztekammern beziehungsweise die Bundesärztekammer (BÄK).
„Passt nicht zur Musterweiterbildungsordnung“
Im Gespräch mit DocCheck bewerten BÄK-Vertreter den Vorstoß negativ. „Medizinische Notfälle können sich sowohl prä- als auch innerklinisch ereignen, Notfallmedizin umfasst somit fachlich die gesamte Rettungskette und ist ein interdisziplinärer Bereich der Medizin, in dem vor allem Ärzte aus den Bereichen Innere Medizin, Chirurgie, Neurologie, Kinderheilkunde und auch Anästhesiologie tätig sind“, betont Jana Kromer von der Pressestelle der deutschen Ärzteschaft. „Die Bundesärztekammer hält es nicht für sinnvoll, in der Musterweiterbildungsordnung (MWBO) für Ärztinnen und Ärzte eine Qualifikation wie beispielsweise einen Facharzt für Notfallmedizin zu hinterlegen, die an eine bestimmte Organisationsstruktur gebunden ist.“ Vielmehr seien darin Anforderungen definiert, die sich an bestimmten Krankheitsbildern oder Organfächern oder Versorgungsaspekten orientierten. „Eine eigenständige Qualifikation, die hauptsächlich auf organisatorische Aspekte und auf die Führungsqualifikation zur Leitung einer bestimmten Krankenhauseinheit ausgerichtet ist, passt nicht in die Systematik der MWBO.“
Soll ein Facharzt für Notfallmedizin eingerichtet werden oder sollen Notfälle besser weiterhin von den Spezialisten behandelt werden? Diskutieren Sie in den Kommentaren!