Blinde Passagiere auf großer Fahrt: Schweinegrippe und Co. stoppen nicht an Ländergrenzen, etablierte Pandemiepläne greifen aber erst im Katastrophenfall. Deshalb fordern Vertreter der Global Viral Forecasting Initiative einen Paradigmenwechsel.
Brisanter Stoff im Kino: Steven Soderberghs Film „Contagion“ zeigt in düsteren Farben, wie eine Pandemie die Menschheit an den Rande des Abgrund bringen könnte. Überwinden Viren die Grenzen einer Spezies und werden humanpathogen, so kommt es Dank des modernen Flugverkehrs in Windeseile zur weltumspannenden Bedrohung. Soderbergh erhielt bei der Umsetzung des heiklen Themas Unterstützung vom US-amerikanischen Center for Disease Control and Prevention (CDC). Damit gelang trotz aller Fiktion eine realistische Darstellung der Szenarien.
Nicht Fisch, nicht Fleisch
Pandemien entstehen häufig, indem tierische Erreger durch genetische Mechanismen auch für Menschen gefährlich werden. Bestes Beispiel: Die „Schweinegrippe“, korrekter als „neue Grippe“ bezeichnet und vom Influenza-A-Virus H1N1 ausgelöst, sorgte laut Weltgesundheitsorganisation WHO bis Ende 2009 für knapp 500.000 nachgewiesene Infektionen, wobei rund 6.000 Menschen starben. Molekularbiologisch gilt der Krankheitserreger als Mischform zweier Viren, die bereits in Schweinen nachgewiesen werden konnten. Der hohe Übereinstimmungsgrad diverser Proben und die Struktur von Oberflächenproteinen lassen vermuten, dass die „Schweinegrippe“ erst kurz vor der Ausbreitung humanpathogene Eigenschaften entwickelt hat, von Forschern aber schlichtweg übersehen wurde.
Auch bei der Vogelgrippe, einer durch A/H5N1-Viren hervorgerufenen Zoonose, befürchteten Virologen Übles: Ein Reassortment hätte ab 2005/2006 zur länderübergreifenden Bedrohung führen können, dennoch blieb es – mit wenigen Ausnahmen – bei der der Übertragung zwischen Tieren. Möglicherweise ist es aber nur eine Frage der Zeit, wann das virale Mischwesen entsteht: Leben Menschen und Tiere dicht an dicht, wie in Südostasien oder in Zentralafrika, kann es zum Austausch von Erbgut zwischen humanen und tierischen Viren kommen.
Büchse der Pandora
Der Vorgang lässt sich im Labor deutlich beschleunigen, wie Arbeiten von Professor Yoshihiro Kawaoka und Professor Ron Fouchier zeigen: Ihnen gelang es, H5N1-Reassortanten mit Virulenz-Genen der Schweinegrippe (H1N1) herzustellen, hoch letal im Tierexperiment und extrem interessant für Terroristen weltweit. Dementsprechend kam es zum Streit, ob die Sequenz des Supervirus überhaupt veröffentlicht werden darf, Kawaoka und Fouchier hatten im Rahmen des „European Scientists Fighting Influenza“-Kongresses lediglich handverlesene Berichte präsentiert. Ein US-Gutachtergremium riet dringend, die Daten teilweise zu zensieren, was weltweit führende Virologen veranlasste, 60 Tage ihre Forschung ruhen zu lassen. WHO-Experten bewerten den Nutzen einer Publikation mittlerweile höher als mögliche Schäden – und so konnten Artikel bei „Science“ und „Nature“ eingereicht werden. Bis zum Erscheinungstermin erörtern Wissenschaftler weitere Sicherheitsaspekte, eine Informationskampagne ist ebenfalls geplant.
Aber auch ohne menschliches Zutun laufen Reassortierungen teilweise in beängstigender Geschwindigkeit, wie Forscher des CDC herausfanden. Sie rekonstruierten aus Gewebeproben längst Verstorbener die Gensequenz der Spanischen Grippe – ein Virus, das zwischen 1918 und 1920 weltweit mindestens 25 Millionen Todesopfer forderte. Ihre erschreckende Erkenntnis: Kurz vor Beginn der Seuche haben harmlose Vorläuferviren die genetische Information für das Enzym RNA-Polymerase von einem Vogelgrippevirus übernommen und dabei in Windeseile humanpathogene Eigenschaften entwickelt.
Schnitzeljagd mit Scheinen
Doch endet die schlimmste Pandemie in Windeseile, wenn ihr Schaden auf ein abgelegenes Bergdorf beschränkt bleibt. Vergleicht man beispielsweise Pestausbrüche im 14. Jahrhundert mit der SARS-Welle Anfang 2003, so zeigen sich entscheidende Unterschiede: Aufgrund schlechter Straßen und begrenzter Reisemöglichkeiten, außer Pferd, Schiff oder Fußmarsch gab es im Mittelalter nichts, breitete sich das Bakterium Yersinia pestis nur wenige Kilometer pro Tag aus, während SARS über internationale Flugrouten binnen 36 Stunden alle Metropolen erreichen konnte. Mathematische Simulationen zeigten, dass vor allem Knotenpunkte mit dem höchsten Vernetzungsgrad für die Verbreitung verantwortlich waren, nicht aber Flughäfen mit dem höchsten Passagieraufkommen.
Um dies nachzuweisen, hatten Physiker eine geniale Idee: Sie begaben sich auf die Spur von Geldscheinen, die Reisende in Portemonnaies, Hosentaschen oder Handtaschen begleiten. In den USA ließ sich das vergleichsweise einfach umsetzen: Internet-User können auf der beliebten Website „Where’s George?“, benannt nach George Washingtons Konterfei auf Ein-Dollar-Scheinen, Seriennummern und Postleitzahlen eingeben. Mehr als 150 Millionen Geldscheine wurden auf diese Art mittlerweile erfasst. Während zahlreiche Analysen vorher eher Flughäfen oder zentrale Bahnhöfe im Visier hatten, zeigte die Studie, dass drei von vier Reisen bereits nach 50 Kilometern enden – ein Bild lokaler Verkehrswege und damit möglicher Ausbreitungsrouten entsteht. Sowohl geographische Barrieren wie Flüsse oder Gebirge als auch sprachliche Hemmnisse stoppten die Ausbreitung – laut den Forschern ein Ansatz, um die Seuchenbekämpfung auf regionaler Ebene zu optimieren.
Google wusste es schon immer
Die moderne Technik kommt aber noch ganz anders zum Einsatz: Beobachtungen von „Google“ haben gezeigt, dass die Häufigkeit von Suchanfragen zum Thema Grippe mit der Patientenzahl korreliert. Nicht jede Person, die entsprechende Begriffe eintippt, ist erkrankt, aber mathematisch ließen sich Übereinstimmungen finden. Das Prinzip wäre auf andere Infekte übertragbar, vorausgesetzt, charakteristische Symptome erlauben eine Unterscheidung von der klassischen Influenza. Seit März 2011 läuft ein ähnliches Projekt auch am Robert Koch-Institut: Im „GrippeWeb“ haben User die Möglichkeit, akute Atemwegserkrankungen selbst einzutragen – ein Werkzeug, das nach einem feineren Raster die Beobachtung saisonaler Influenza-Wellen ermöglicht.
Sollte es zum Schlimmsten kommen, reagiert Deutschland auf Anforderungen der „WHO checklist for influenza pandemic preparedness planning“ mit einem nationalen Pandemieplan, nochmals für einzelne Bundesländer spezifiziert. Neben medizinischen Maßnahmen zu Diagnostik, Therapie und Prävention befassen sich die Dokumente vor allem mit einer Frage: Wie lassen sich bei tausenden an Patienten öffentliche Versorgungsstrukturen aufrechterhalten? Experten kritisieren, dass alle Planungen nur versuchen, das Schlimmste zu vermeiden.
Agieren statt reagieren
Als Perspektive für die Zukunft fordert Professor Nathan D. Wolfe, Direktor der Global Viral Forecasting Initiative (GVFI), deshalb ein generelles Umdenken: Virologen, Epidemiologen und Politiker sollten davon wegkommen, nur auf Pandemien zu reagieren. Wolfe möchte Krankheitswellen durch neue Viren in Zukunft verhindern, indem er Regionen mit intensivem Kontakt zwischen Mensch und Tier beobachtet, mit Hilfe regionaler Labors in Südostasien oder Zentralafrika. Seine Mitarbeiter fanden etwa im Blut afrikanischer Jäger Gene eines neuen Retrovirus, das von Gorillas stammt. Mit diesem Vorsprung an Wissen und an Zeit ließen sich Behandlungsmethoden entwickeln, vielleicht sogar Impfstoffe produzieren, bevor es zur Katastrophe kommt.