Gute Palliativmedizin begleitet den Menschen und verhilft ihm zu einem friedlichen Abschied. Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner, hat darüber ein Buch geschrieben. Ein Ratgeber für Patienten, aus dem auch Ärzte und Pflegende lernen können.
„Ich hasse den Tod“, so hat sich 2007 der renommierte Herzchirurg Bruno Reichart in einem Interview über vergebliche Bemühungen geäußert, den Patienten am Leben zu erhalten. Wenn der Patient stirbt haben die Ärzte versagt - den Tod nehmen viele Mediziner persönlich und übersehen dabei doch, dass der Exitus etwas genauso Natürliches ist wie die Geburt.
Sterben: Raus aus der Tabu-Ecke
In Deutschland leben rund 1,4 Millionen Menschen, die in den letzten fünf Jahren die Diagnose „Krebs“ bekommen haben. Für viele davon ist die Hoffnung auf Heilung unrealistisch. Gian Domenico Borasio ist ein anerkannter Experte für das Sterben. Der Palliativmediziner war lange Zeit in München tätig und hat jetzt den Lehrstuhl für Palliativmedizin in Lausanne inne. Er hat ein Buch „Über das Sterben“ geschrieben, mit dem er das Ableben aus der Tabu-Ecke holen will. Besonders dem Patienten sollen die rund 200 Seiten die Angst vor den letzten Stunden, Tagen und vielleicht auch Monaten seines Lebens nehmen. Ärzte und Pfleger spielen in dieser Zeit für ihn eine außerordentlich wichtige Rolle. Darum lohnt es sich auch für sie, sich mit seinen Hinweisen „Was wir wissen, was wir tun können und wie wir uns darauf einstellen“ zu beschäftigen.
Morphin und Eiswürfel
Nur die wenigsten Patienten bekommen den Tod, den sie sich im Voraus wünschen. Er sollte schnell und unerwartet kommen. Gerade mal jeder Dreissigste stirbt auf diese Weise. Zu allermeist sorgt ein Tumor oder - in zunehmenden Maße - eine länger andauernde Demenz für das schleichende Ende. Borasio, der die Begleitung in der letzten Lebensphase zu seinem Beruf gemacht hat, erläutert die Unterschiede zwischen Herz-Kreislauftod, Lebertod oder Gehirntod. Den Wunsch, sich nicht unter Schmerzen verabschieden zu müssen, kann die Medizin inzwischen in den meisten Fällen dagegen erfüllen. Noch immer, so berichtet der Palliativmediziner, ist die Angst vor einer Überdosierung von Schmerzmitteln wie Morphin oder anderen Opioiden bei vielen Ärzten vorhanden - unnötigerweise. Auch gegen Atemnot wirken Morphine effektiv und verhindern Panik. Damit ermöglichen sie oft ein selbstbestimmtes friedliches Dahinscheiden.
Nicht immer sinnvoll ist dagegen die Gabe von Getränken gegen das „Verdursten“ oder Sauerstoff zur Atemunterstützung. Bei eingeschränkter Nierenfunktion kann der Körper die Flüssigkeit nicht mehr ausscheiden, die Flüssigkeit lagert sich in der Lunge ab und führt zur Atemnot. Sauerstoff trocknet die Schleimhäute aus. Deswegen empfiehlt Borasio etwa Eiswürfel, um sie feucht zu halten.
Betreuung zum Taschengeld-Satz?
Zu Hause stirbt entsprechend den Statistiken nur jeder Vierte, die meisten übrigen in der Klinik oder im Pflegeheim. Wer in den eigenen vier Wänden hinübergehen möchte, sollte idealerweise auf dem Land leben, gute Kontakte zu Nachbarn und Töchter in die Welt gesetzt haben, die ihn oder sie pflegen können. Damit der Wunsch nach Vertrautem in den letzten Stunden wahr werden kann, gibt es immer mehr so genannte SAPV-Teams, Ärzte, Pfleger und Sozialdienst der spezialisierten ambulanten Palliativ-Versorgung. In diesem Netz spielt auch der Hausarzt eine ganz besondere Rolle. Borasio legt hier den Finger auch auf offene Wunden: Welcher Landarzt kann es sich leisten, bei einem Satz von 18 Euro pro Visite seinem Patienten zuzuhören und ein ruhiges längeres Gespräch ohne Terminhetze führen?
Dabei wären gerade solche Gespräche immens wichtig. Damit der Patient selbstbestimmt sterben kann, muss er seine Wünsche mitteilen. Und das kann er nur, wenn er gut darüber Bescheid weiß, was ihn erwartet. Kommunikationsprobleme mit dem Arzt, mit Angehörigen oder unter den Pflegenden sind deshalb die größten Hindernisse in der Palliativversorgung. Vorbereitung auf diese Situation hilft. Das Buch gibt Tipps zum Gespräche mit dem Arzt, aber auch zu Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung.
Palliativmedizin: Besser und länger leben
Ein großes Kapitel beschäftigt sich mit dem Thema Sterbehilfe. Borasio wendet sich entschieden gegen die Regelung in Belgien und den Niederlanden, die ein Töten auf Verlangen erlaubt, befürwortet aber den Verzicht auf unnötige lebensverlängernde Massnahmen, wenn keine Hoffnung auf Heilung mehr besteht. Ein Artikel im New England Journal verglich im Jahr 2010 Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkarzinom, die bis zuletzt Chemo- oder Radiotherapie erhielten, mit solchen, denen eine palliativmedizinische Betreuung zuteil wurde. Fast drei Monate länger lebten die Menschen unter der Obhut von Palliativmedizinern, zusätzlich zu einer besseren Lebensqualität und weniger depressiven Phasen.
Mitleid? - Für wen?
Die Erfahrungen mit den Patienten in den letzten Tagen und Monaten haben sich in den „Münchner Leitlinie zu Entscheidungen am Lebensende“ niedergeschlagen, ein Dokument, an dem der Autor entscheidend mitgewirkt hat. Dass das Dabeisein beim Sterben nicht nur ein Gewinn für den Sterbenden, sondern auch für den Arzt ist, beschreibt Borasio am Schluss des Buches. Er berichtet von der einmaligen Chance für den Begleiter, von seinem Gegenüber im Bett für das eigene Leben zu lernen. Denn der weiß oft viel besser etwa um den Wert der Zeit und um das, was ein Leben ausmacht. Vielleicht sollten wir uns das Mitleid mit ihm sparen. Könnte es nicht sein, dass wir Hilfe für unser Weiterleben nötiger haben als er?