Ob Krieg oder Naturkatastrophen: Opfer und Retter leiden noch lange unter den Ereignissen. Kamen bis dato vor allem psychotherapeutische Verfahren zum Einsatz, gelang es nun Neurowissenschaftlern, das Angstgedächtnis durch Pharmaka zu löschen.
Jeffrey Mitchell, ein Notfallmediziner aus der Nähe von Baltimore, USA, sah sofort, dass jede Hilfe zu spät kam: Beim Zusammenstoß zweier Fahrzeuge hatte ein Metallrohr die Beifahrerin durchbohrt, eine junge Frau, auf dem Rückweg von ihrer eigenen Hochzeit. Besagte Bilder verfolgten Mitchell fortan Tag und Nacht – kein seltener Fall bei Einsatzkräften oder Soldaten: Laut Bundeswehrangaben litten im vorletzten Jahr 729 Kameraden unter posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), in 2011 waren es sogar 922 Patienten. Vor allem gilt die hohe Komorbidität als gefährlich, Betroffene greifen häufig zur Flasche oder konsumieren illegale Drogen, um gegen ständig wiederkehrende Erinnerungen anzukämpfen.
Per Zufall zur Therapie
Nachdem sich Mitchell monatelang quälen musste, plötzlich ein Silberstreif am Horizont: Erzählte er seinem Bruder von dem schrecklichen Geschehen, ging es ihm deutlich besser. Er war quasi durch Zufall über eine leistungsfähige Behandlungsmethode gestolpert – und ließ die Fachwelt umgehend daran teilhaben: Das Critical Incident Stress Management (Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen) war geboren. Mitchells Idee: Um den eigenen „Speicher“ nicht zu verschließen, sollten Menschen nach traumatischen Ereignissen ihre Gefühle artikulieren. Die Technik hat sich mittlerweile etabliert, ist aber mit immensem Aufwand verbunden: Eine typische Sitzung dauert etwa drei Stunden, in denen speziell ausgebildete Therapeuten Opfer anleiten, das traumatische Geschehen möglichst detailliert wiederzugeben. Neurowissenschaftler hingegen bewerten PTBS als molekularen Vorgang – was liegt näher, als pharmakologisch einzugreifen?
Rätselhaftes Angstgedächtnis
Obwohl sich im Gegensatz zu motorischen Fähigkeiten die Gedächtnisleistung nicht auf ein Zentrum beschränkt, weiß man heute, dass emotionale Inhalte, wie sie auch bei erlerntem Angstverhaltene eine Rolle spielen, in der Amygdala zu finden sind. Diese Gehirnregion gilt als Schnittstelle zwischen Thalamus und Hirnstamm, ein Ansatz, um mentale Einflüsse bei der Entstehung physiologischer Reaktionen zu verstehen: Während der Thalamus Reize von den Sinnesorganen bekommt, steuert der Hirnstamm beispielsweise Herzschlag oder Atmung – und damit auch typische Stresssymptome. Aus Sicht der Evolution eine durchaus sinnvolle Antwort auf kurzfristige Gefahren, doch wie entsteht das Angstgedächtnis?
Paradigmenwechsel durch ein Protein
Nach der klassischen Theorie speichert unser Gehirn Daten in neuronalen Netzwerken. Verbindungen zwischen Nervenzellen, sprich Synapsen, sind die entscheidende Größe: Ständig bilden sich neue Verknüpfungen, andere Schnittstellen wiederum gehen mit der Zeit verloren. Modelle zur synaptischen Plastizität reichen aber nicht aus, um das Angstgedächtnis zu erklären.
In den späten 1990er Jahren nahm sich Karim Nader, damals noch Doktorand, heute Professor an der kanadischen McGill-Universität, Montreal, des Themas an. Sein Chef, der berühmte Neurowissenschaftler Joseph LeDoux, Professor am Center for Neural Science an der New York University, ermutigte den jungen Forscher nicht gerade: „Ich sagte Karim, er vergeude nur seine Zeit.“ Davon ließ sich Nader aber nicht bremsen. Im Zuge seiner Experimente lehrte er zunächst Ratten das Fürchten: Ein lautes Geräusch wurde mit einem ungefährlichen, aber dennoch schmerzhaften Stromschlag verknüpft. Seit Iwan Petrowitsch Pawlows Experimenten aus dem Jahr 1905 ist bekannt, dass Tiere nach einiger Zeit schon beim Geräusch zusammenzucken, auch wenn gar keine Elektrizität folgt. Nach der Konditionierung über mehrere Wochen spielte Nader das Geräusch erneut ab, injizierte den Nagern aber einen Hemmstoff der Proteinbiosynthese direkt ins Gehirn. Die Überraschung: Es gab keine Erinnerung mehr, keine Angst, auch nicht bei der späteren Wiederholung des Versuchs. Neue Assoziationen waren weiterhin möglich.
Mit den Versuchsreihen machte sich Karim Nader nicht nur Freunde. Seine These, Angsterinnerungen erforderten eine Proteinsynthese in der Amygdala, galt schließlich als Paradigmenwechsel in den Neurowissenschaften: Nicht die Verschaltungen diverser Neurone sind entscheidend, sondern vielmehr eine de novo-Synthese von Eiweißen. Nader fand auch molekulare „Baupläne“, mRNAs, die sowohl zur Festigung als auch zum Vergessen der Angsterinnerung erforderlich sind. Im Gegensatz zu Grundlagenforschern nahmen Therapeuten die neuen Erkenntnisse mit großem Enthusiasmus auf.
Löschtaste im Gehirn
Hier kommt Jeffrey Mitchells Critical Incident Stress Management wieder zum Tragen: Erleben Patienten ein traumatisches Ereignis, wird es einerseits als neuronales Abbild des realen Geschehens abgelegt, sprich in Form einer mehr oder minder guten Kopie. Andererseits speichert die Amygdala Emotionen, ausgelöst durch negative Gefühle während des Unfalls oder der Katastrophe. Ein faszinierender Ansatz zur Behandlung der PTSD wäre jetzt, Patienten nach Mitchells Techniken wieder die Situation zu versetzen und gleichzeitig einen Hemmstoff der Proteinbiosynthese zu verabreichen.
Genau das versuchte Alain Brunet, Psychiater am Douglas Mental Health University Institute in Kanada. Für eine randomisierte Doppelblindstudie wählte er 19 Patienten aus, die sexuelle Übergriffe, Autounfälle oder Gewaltverbrechen erlebt hatten und seither unter PTBS litten. Sie mussten sich wieder in die schrecklichen Geschehnisse hineinversetzen, gleichzeitig verabreichte Brunet zehn Patienten den Betablocker Propranolol, neun erhielten Placebo. Eine Woche später wurden alle Patienten erneut gebeten, die belastenden Geschehnisse zu schildern. Obwohl sie sich nach wie vor gut erinnern konnten, zeigten sich unter Verum signifikant niedrigere Stressreaktionen. Die Angst war nicht komplett verschwunden, schien allerdings weniger lähmend zu sein. Mittlerweile wird Propranolol off label in der PTBS-Therapie eingesetzt, große Studien hoher Qualität sind in Arbeit. Trotz der optimistischen Daten bleiben viele Patienten dennoch traumatisiert – und Wissenschaftler lassen nicht locker.
Ein Eiweiß namens Zeta
Todd Sacktor vom SUNY Downstate Medical Center, New York, erforscht seit Jahren Lernprozesse. Seine These: Laufen entsprechende Vorgänge tatsächlich über ein Protein, muss sich dieses auch finden und charakterisieren lassen. Nach mehr als zehn Jahren harter Arbeit entdeckte er tatsächlich ein spezielles Enzym und nannte es Proteinkinase M zeta (PKMzeta). Dieses Molekül sorgt für eine Speicherung angenehmer sowie unangenehmer Erinnerungen im Langzeitgedächtnis, indem Funktionalitäten der Synapsen beeinflusst werden – ein ideales Ziel für Arzneimitteltherapien bei PTBS. „Das erwies sich als bemerkenswert einfach“, erzählt Sacktor. „Alles, was wir tun mussten, war, ein passendes Molekül aus dem Katalog zu bestellen und an Tieren zu testen.“ Im Experiment erwies sich der Hemmstoff „ZIP“ als geeignet, ein kurzes Peptid mit 14 Aminosäuren. Mit Erfolg: Ratten, denen man eine Aversion gegen den Süßstoff Saccharin antrainiert hatte, „vergaßen“ nach „ZIP“-Gabe alle schlechten Erfahrungen, und zwar für mehrere Wochen, Sacktor vermutet, eventuell sogar für immer. Doch ganz so einfach scheint der Zusammenhang dann doch nicht zu sein, wie aktuelle Untersuchungen ergeben haben. Experimente mit Hemmstoffen in vitro lassen nur schwer Rückschlüsse auf komplexere Umgebungen wie Zellen im Gehirn zu. Forscher an der University of California, San Diego, USA, vermuten sogar, dass PKMzeta als Vermittler der synaptischen Plastizität doch nicht die Schlüsselrolle einnimmt. Andere Studien bescheinigen diesem Eiweiß aber noch eine Reihe interessanter Eigenschaften.
Gehirndoping Marke Eigenbau
Auf der anderen Seite arbeitete der Forscher mit Nagern, die PKMzeta überexprimierten und sich antrainierte Dinge ewig merkten. Neue Forschungsarbeiten machen dieses Enzym auch für Alzheimer-Patienten interessant: PKMzeta lagert sich in Neurofibrillen ab und steht folglich für Lernprozesse nicht mehr zur Verfügung, was mit einer Verschlechterung synaptischer Übertragungsprozesse einhergeht. Auch deutet viel auf die Beteiligung des Gehirnproteins bei Entzugserscheinungen von Suchtpatienten hin.