In Deutschland leiden mehr als 3 Millionen Menschen an chronischen Wunden. Es etablieren sich zunehmend Wundsprechstunden und speziell geschulte Pflegekräfte. Traditionell und doch noch modern ist die Behandlung mit Maden.
Das Ulcus cruris ist mit 57-80 Prozent die häufigste Ursache der nicht spontan abheilenden Wunden. Auf Platz 2 der „Wunden-Hitliste“ steht der Diabetische Fuß. Ein Viertel aller Diabetiker, etwa 1 Mio. Betroffene, leiden darunter. Der Decubitus ist gerade in Alten- und Pflegeheimen ein großes Problem. Bis zu 14 Prozent aller stationär aufgenommenen Patienten und bis zu 40 Prozent der Menschen in häuslicher Pflege leiden an Dekubitalulzerationen.
Lernen von den Mayas
Eine Kollegin der besonderen Art ist dabei Lucilia. Lucilia sericata ist weiß, halbtransparent, hat einen schwarzen Mund ohne Zähne und gehört zur Familie der Nekrophagen. Lucilia ist eine Made. Die Wundbehandlung mit Maden ist nicht neu. Bereits die Maya-Indianer und die Aborigines setzen die Larven zur Wundbehandlung ein. Die Maya-Indianer sollen in Tierblut getränkte Tücher der Sonne ausgesetzt haben, damit Fliegen ihre Eier darauf ablegen. Vor der Einführung der Sulfonamide hatten Maden in Deutschland einen großen Stellenwert. Die modernen Antibiotika verdrängten die tierischen Heilmittel aus dem Arsenal der Wundbehandlungsmittel. Zu unrecht. Maden können mehr als Penicillin & Co. Antibiotika töten lebende Bakterien, Maden fressen auch totes Gewebe und geben so dem Wundbereich eine Chance zur Regeneration.
Ursprünglich wurden die Maden „freilaufend” in die Wunde gesetzt. Die Wunde wurde mit Netzgewebe abgedeckt, um eine Flucht der kleinen Heiler zu verhindern. Es gibt gewisse Dinge, die sind bei vielen Menschen einfach mit dem Gefühl „Ekel“ besetzt. Maden gehören sicherlich dazu. Ein „Madenbeutel“ lindert den Ekel des Patienten (und des Pflegepersonals) deutlich. Der Biobag® besteht aus einer dünnen Polyvinylalkohol-Schaum-Schicht, die für Madensekrete und Wundflüssigkeit durchlässig ist. Die Maden werden vom Patienten nicht mehr direkt wahrgenommen. Da sie die Wunde nicht direkt berühren, ist die Therapie absolut schmerzfrei. Dem Patienten sollte vermittelt werden, dass Maden keine Zähne haben, sie setzen lediglich verdauende Sekrete frei. Bei einer Therapiedauer von 3 bis 6 Tagen sollten etwa 10 Maden pro cm2 zur Anwendung kommen
Multifaktorielle Wirkung
Indikationen für die Madentherapie sind die Behandlung von Infektionen in der Traumatologie wie Frühinfektionen nach Osteosynthesen, Spätinfektionen wie (chronische) Osteomyelitis, und Weichteilinfektionen in der Allgemeinchirurgie einschließlich Fasciitis necroticans. Auch in der Gynäkologie haben sie sich bewährt. Debridement, antimikrobielle Aktivität und Granulationsförderung sind nach neuesten Erkenntnissen die wichtigsten Wirkmechanismen der Therapie mit Fliegenmaden. Die Maden verteilen ihr Sekret auf der Wundoberfläche. Es enthält zahlreiche proteolytische Enzyme, die die Nekrose verflüssigen. Diese Form des Debrimentes ist wesentlich schonender als das Skalpell.
Tierisch wirksam
Innerhalb von drei Tagen verzehnfachen die Maden ihre Körperlänge. 20 Maden verdauen in dieser Zeit etwa 10 g nekrotisches Gewebe. Das gesunde Gewebe wird nicht angetastet. Das Lucilia-Sekret wirkt außerdem antibiotisch. Es scheint sogar gegen methicillinresistente Keime wirksam zu sein. Neben einer pH-Verschiebung in den alkalischen Bereich sind auch die im Darmsekret von Maden nachgewiesenen Substanzen Phenylacetat und Phenacetaldehyd für die keimtötenden Eigenschaften verantwortlich. Aufgenommene Bakterien werden im Magen der Maden lysiert und inaktiviert.
Das Madensekret stimuliert das Wachstum von humanen Fibroblasten und fördert somit die Granulation. Dieser Effekt wird durch eine gesteigerte Aktivität der Wachstumsfaktoren Interleukin-6 (IL-6) sowie IGF („insulin-like growth factor”) verstärkt. Maden brauchen bei ihrer Arbeit Luft und Feuchtigkeit. Wenn die Wunde sehr stark nässt, sollen die Sekrete beispielsweise mit einem PVA-Schwamm abgeleitet werden, damit die Maden nicht ertrinken.
Wie die Made in der Klinik
Die Wundreinigung mithilfe von Fliegenmaden gehört eindeutig zum Repertoire der Schulmedizin“, mit dieser Ansicht zitiert die Deutsche Apothekerzeitung (DAZ) Joachim Dissemond von der Hautklinik des Universitätsklinikums Essen. Für den Dermatologen ist die Madentherapie beispielsweise das Mittel der Wahl, wenn eine Wunde nicht chirurgisch gereinigt werden kann, weil der Patient eine Narkose nicht verträgt. Ihre Vergütung erfolgt nach vorangehender Beantragung beim jeweiligen Kostenträger über eine „Einzelfallentscheidung“.
Am Endpunkt vorbeigeschrammt
Auch wenn die Madentherapie bereits sehr lange angewendet wird und galenische Fortschritte die Therapie verbessert haben, gibt es auch Maden-Gegner. „Die Applikation von Fliegenlarven fördert bei einem Ulcus cruris zwar das Débridement, die Wundheilung verlief jedoch nicht schneller als unter einer konventionellen Wundauflage aus Hydrogel.“ Das zumindest ist das Ergebnis einer im Britischen Ärzteblatt (BMJ 2009; 338: b773) publizierten randomisierten Studie. 267 Patienten mit einem venösen oder gemischt venös-arteriell bedingten Ulcus cruris mit nekrotischen Anteilen wurden in die VenUS II-Studie eingeschlossen.
In der ersten Gruppe wurden die Larven frei auf der Wundoberfläche ausgesetzt, in der zweiten Gruppe wurden sie in ein Gazenetz verpackt, in der dritten Gruppe erfolgte die Wundbehandlung madenfrei mit einem Hydrogel. Primärer Endpunkt war die Dauer bis zur Abheilung des größten Ulcus. Das Ulcus unter der Madentherapie war im Mittelwert nach 236 Tagen verheilt, gegenüber 245 Tagen unter der Wundbehandlung mit dem Hydrogel. Das Ergebnis war nicht signifikant. Dabei hatten sich die Maden am Anfang soviel Mühe gegeben und sich tierisch auf die nekrotischen Areale gestürzt. Die freien Larven hatten die Arbeit nach 14 Tagen, die verpackten nach 28 Tagen erledigt.
Unter der Hydrogelwundauflage vergingen lange 72 Tage, bis die Wunde frei von abgestorbenen Geweberesten war. Warum sich dieses gute Ergebnis nicht auf die Wundheilung als Endpunkt auswirkte ist unklar. Einige Patienten klagten bei der Madentherapie über „Kribbeln“ und Schmerzen. Die Kosten für eine Madenbehandlung liegen etwa auf dem Niveau eines Debridements mit Wundauflagen. Wegen der unklaren Erstattungssituation der Kostenträger wird die Therapie meist in der Klinik durchgeführt obwohl mit der Wundbehandlung häufig niedergelassene Ärzte betraut sind. Auch wenn die höchste Stufe der Evidenz noch fehlt, sind die kleinen, weißen tierischen „Chirurgen“ eine spannende Alternative.