Neurodegenerative Erkrankungen stellen eine der größten Herausforderungen unserer alternden Gesellschaft dar. Forscher erzeugten nun aus Hautzellen neue Nervenzellen. Dadurch könnten sich die Ursachen der Gehirnkrankheiten besser als bisher erforschen lassen.
Seitdem die Menschen in Deutschland immer älter werden, wächst auch die Zahl derer rasant, die an neurodegenerativen Krankheiten leiden. Die Erforschung dieser Erkrankungen schreitet trotz großer Anstrengungen jedoch nur langsam voran, da Wissenschaftler bislang kaum Möglichkeiten haben, Gehirngewebe von lebenden Patienten direkt zu untersuchen. Nun ist es einem Forscherteam der Universität Bonn gelungen, von Patienten mit einer erblichen Bewegungsstörung Hautzellen zu entnehmen und diese in funktionierende Nervenzellen umzuwandeln.
Wie Professor Oliver Brüstle und Philipp Koch zusammen mit ihren Kollegen in der Fachzeitschrift Nature berichteten, identifizierten sie mit Hilfe dieser reprogrammierten Zellen neue Details des molekularen Prozesses, der zum Ausbruch der Machado-Joseph-Krankheit führt. Die spinozerebelläre Ataxie tritt im Erwachsenenalter auf und führt bei betroffenen Personen zu Gangstörungen, ungewöhnlichen Augenbewegungen und Gedächtnisverlust. Genetische Ursache der nur selten vorkommenden Erkrankung ist eine Mutation im Ataxin-3-Gen, das die Bauanleitung für das gleichnamige Protein trägt und vor allem in Neuronen angeschaltet wird.
Verändertes Protein neigt zur Aggregation
„Normalerweise enthält das Ataxin-3-Protein eine Sequenz mit durchschnittlich 30 aufeinander folgenden Glutaminsäure-Molekülen“, erklärt Koch, der wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn ist. „Bei Erkrankten besteht diese Sequenz meist aus 60 bis 70 dieser Aminosäuren.“ Vor allem in den Neuronen des Hirnstamms, so der Mediziner, neige das veränderte Protein zur Verklumpung. Über die eigentliche Aufgabe von Ataxin-3 ist noch wenig bekannt; vermutlich überwacht es den Abbau anderer Proteine in der Zelle.
Um die Krankheitsprozesse auf molekularer Ebene besser verstehen zu können, isolierten die Forscher um Brüstle und Koch Bindegewebszellen aus Hautproben von vier Patienten und schleusten mit Hilfe von Retroviren mehrere Gene ins Innere der Zellen. Die Gene enthalten die Bauanleitung von mehreren Transkriptionsfaktoren, welche die Umwandlung der Hautzellen in so genannte induzierte pluripotente Stammzellem (kurz: iPS-Zellen) anregen. Diese verhalten sich ähnlich wie embryonale Stammzellen und lassen sich nicht nur nahezu uneingeschränkt vermehren, sondern auch in alle anderen Zelltypen ausreifen.
Protein-Aggregate bilden sich nach elektrischer Stimulation
In einem weiteren Schritt wandelten die Bonner Forscher die iPS-Zellen in Gehirnstammzellen um, aus denen sie dann beliebig viele Nervenzellen für ihre nächsten Experimente erzeugen konnten. Die so im Labor gewonnenen Nervenzellen tragen die gleichen genetischen Veränderungen wie die betroffenen Zellen im Patienten selbst. „Es ist beinahe so, als hätten wir das Gehirn des Patienten in die Zellkulturschale gebracht“, sagt Koch. Als er und seine Mitarbeiter die künstlich geschaffenen Nervenzellen elektrisch stimulierten, bildeten sich in ihrem Inneren große Protein-Anhäufungen, die aus Ataxin-3-Fragmenten bestanden.
„Wenn eine Nervenzelle auf diese Weise angeregt wird, fließen vermehrt Calcium-Ionen ins Zellinnere und aktivieren das Enzym Calpain“, erklärt Koch. Calpain spaltet anschließend Ataxin-3. Die Fragmente, welche die Glutaminsäure-Moleküle enthalten, lagern sich zusammen und verursachen wahrscheinlich dadurch bei Patienten den immer stärker werdenden Funktionsverlust der Nervenzellen. „Gehirnaktivität scheint ein wesentlicher Faktor für den Krankheitsprozess zu sein“, sagt Koch. „Dadurch, dass die Patienten denken, lösen sie womöglich die Krankheit aus.“ Der neu identifizierte Mechanismus könne auch erklären, warum die Machado-Joseph-Krankheit vermutlich nur Nervenzellen befalle.
Beschleunigte Entwicklung von neuen Medikamenten
Nachdem die Bonner Wissenschaftler den Nachweis erbracht haben, dass reprogrammierte Nervenzellen für die Ursachenforschung der Machado-Joseph-Krankheit verwendet werden können, geht Koch davon aus, dass sich die neu geschaffenen Zellen auch sehr gut eignen, um die Wirkung von neuen Medikamenten zu testen. Auch nach Ansicht von Professor Erich Wanker vom Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin werden reprogrammierte Nervenzellen in Zukunft eine wichtige Rolle bei der Erforschung weiterer neurodegenerativer Erkrankungen und der Entwicklung von Medikamenten spielen. Dennoch rät Wanker zur Vorsicht: „Die meisten dieser Krankheiten entwickeln sich über Jahrzehnte, daher gibt es keine endgültige Garantie dafür, dass die mit Hilfe der reprogrammierten Nervenzellen gefundenen Prozesse auch genauso im Gehirn der Patienten stattfinden.“