Rund 24 Prozent aller Patienten suchen die Hausarztpraxis wegen Schmerzen auf. Obwohl neue Leitlinien und Medikamente dem Patienten das Recht auf Schmerzfreiheit erfüllen müssten, sieht die Realität oft anders aus. Die Stadt Münster will jetzt den Schmerz abschaffen.
Verglichen mit anderen europäischen Ländern entspricht die Verordnung von Opioidanalgetika immer noch nicht dem Bedarf. „In Europa behindern veraltete staatliche Richtlinien und Verordnungen über den Einsatz und die Verschreibung von Opioiden eine angemessene Schmerztherapie.“ So lautet das Fazit des „Weißbuch zu Opioiden und Schmerz: eine gesamteuropäische Herausforderung“, das die „Opioids and Pain European Network of Minds“ (OPEN Minds)-Gruppe verfasst und dem Europäischen Parlament vorgelegt hat.
Ziel: Schmerzfreiheit
Es existieren schmerzfreie Zahnarztbehandlungen, schmerzfreie Spritzen und schmerzfreie Kliniken. Das Aktionsbündnis Schmerz geht nun einen entscheidenden Schritt weiter: eine ganze Stadt soll schmerzfrei werden. So das Ziel der Aktion. Gemeint ist sicherlich, dass die Bewohner in Münster von ihren Schmerzen befreit werden, aber dieses Ziel klingt fast utopisch. Auf jeden Fall ist jede Initiative zu begrüßen, die das Warnsignal Schmerz abschalten will, wenn es nicht mehr notwendig ist.
Mythos Sucht bremst Analgesie aus
Das Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt. Weltweit werden erstmals die komplexen Zusammenhänge in der Versorgung von Schmerzpatienten innerhalb eines städtischen Gesundheitssystems analysiert. Wissens- und Versorgungslücken an den Schnittstellen von Kliniken, Alten- und Pflegeeinrichtungen, Schmerzpraxen und Hospizen sollen erkannt und geschlossen werden. Ziel ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit aller bei der Betreuung von Schmerzpatienten vernetzten Einrichtungen und Berufsgruppen. Das klingt so logisch, dass man sich fragen muss, warum so etwas nicht längst probiert und realisiert wurde. Auf andere Erkrankungen lässt sich so ein Ziel sicherlich nicht übertragen.
Eine krebsfreie Stadt kann man nicht fordern, denn nicht jeder Krebs ist heilbar. Beim Symptom Schmerz ist dies etwas ganz anderes. Es gibt genügend wirksame Schmerzmittel für alle Schmerzpatienten, aber diese werden ihnen oft wegen Vorurteilen vorenthalten. Meist geht es dabei um die Angst eine Abhängigkeit auszulösen. Wenn ein Diabetiker sein Insulin weglässt, erleidet er eine Hyperglykämie. Ist er deshalb insulinabhängig? Nimmt ein Schmerzpatient sein Opiatanalgetikum nicht mehr ein, kehrt der Schmerz zurück, nicht mehr und nicht weniger. Kaum ein sachgerecht therapierter Schmerzpatient wird körperlich abhängig. Vorausgesetzt er erhält die Pharmaka oral oder transdermal.
Viele Beteiligte – ein Ziel
An der Studie beteiligen sich sechs Krankenhäuser, alle Hospize, Palliativstationen und zwei Schmerzpraxen sowie 14 Altenheime und 14 ambulante Pflegedienste. Geleitet wird das Projekt von Prof. Dr. Jürgen Osterbrink, Lehrstuhlinhaber für Pflegewissenschaft an der Paracelsus Universität Salzburg. Er wird unterstützt von Schmerztherapeuten, Palliativmedizinern und pflegewissenschaftlichen Mitarbeitern der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Bemerkenswert ist die Motivation der peripheren Partner. Krankenkassen, universitäre Forschung, Apotheken, Fachgesellschaften, diverse Verbände und Netzwerke sowie die öffentliche Verwaltung unterstützen das Projekt aktiv.
Die Schirmherrschaft hat Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit, übernommen. Das Geld fließt u.a. von der Firma Mundipharm, eine Pharmafirma mit Schmerzmitteln im Portfolio. Fördermittel stellen außerdem die Stadt Münster sowie das Land Salzburg zur Verfügung. In der ersten Phase erhielten Ärzte, das Pflegepersonal, Patienten und Angehörige Fragebögen zur Erfassung des Ist-Zustandes. Ziel der Interventionsphase ist es, Schwachstellen aufzuzeigen und das Schmerzmanagement zu optimieren.
Erste Ergebnisse: klare Ansagen machen und kommunizieren
Im September 2011 wurden erste Ergebnisse der Auswertungen vorgestellt: „Die Situation der Schmerzpatienten in den untersuchten Einrichtungen ist verbesserungswürdig. So resümierte Professor Dr. Jürgen Osterbrink die bisherigen Datenerhebungen. Der Fokus der ausgewerteten Daten liegt auf den Kliniken und Altenheimen. Erstaunlich ist, dass hier nicht beklagt wird, dass zu wenig Analgetika verordnet werden. Betont wird, dass neben der medikamentösen Schmerztherapie auch nicht-medikamentöse Maßnahmen unerlässlich für eine effektive Schmerztherapie sind. Entscheidend ist, dass die beteiligten Berufsgruppen miteinander kommunizieren und kooperieren.
Professorin Dr. Esther Pogatzki-Zahn, Oberärztin am Universitätsklinikum Münster, ist sich sicher: „Wenn festgelegte Grenzwerte der Schmerzstärke zur Anpassung der Schmerztherapie berücksichtigt werden, können unnötige Schmerzen vermieden werden.“ Erste Optimierungsvorschläge wurden erarbeitet. Diese werden weiter definiert und bei der abschließenden Re-Evaluation überprüft.
Heimbewohner leiden besonders
66 Prozent der befragten Bewohner in Altenheimen gaben an, dass ihre Schmerzen bei Belastung auftreten. Unter einem Ruheschmerz leiden 47 Prozent. Durchschnittlich 51,3 Prozent der Pflegenden befragen die Bewohner zu diesen Schmerzen mindestens einmal pro Schicht. Erstaunlich: nur 18,4 Prozent der Pflegekräfte gaben an, dass für alle oder die meisten Bewohner ein Personen-spezifischer Grenzwert für die Schmerzstärke festgelegt worden ist. Positiv ist natürlich, dass so eine Schwachstelle aufgedeckt und offen gelegt wird.
Befremdlich ist es aber schon, dass solche Basics nicht bereits vor Studienbeginn definiert wurden. Fehlen diese Grundlagen, kann das Pflegepersonal zwar einen Schmerz dokumentieren, aber nicht kurieren. Der Benefit für den Patienten ist dann gleich null. Nur 42 Prozent der Pflegekräfte verfügen über ärztliche Anweisungen in schriftlicher Form, somit fehlt ihnen die Handlungskompetenz.
Auch waren Analgetika nicht immer vorrätig. Aus den Pannen soll gelernt werden. In allen Heimen soll eine Pain-Nurse etabliert werden. Außerdem werden Pflegekräfte geschult, die sich primär mit den pflegerischen Aspekten der Schmerzversorgung befassen. Gemeinsam mit dem Hausärzteverbund, den Fachärzten und der Apothekerkammer werden Fortbildungen durchgeführt werden.
Klinische Schmerztherapie zeigt weniger Schwächen
Für den Patienten im Krankenhaus stellt sich die Situation besser dar. „Grundsätzlich erhalten Patienten mit postoperativen Schmerzen in den Münsteraner Krankenhäusern eine gute Schmerztherapie“, so das Fazit von Prof. Pogatzki-Zahn. Mit durchschnittlich 1,7 bewerten die Patienten die Qualität der Schmerztherapie. Die Pflegekräfte vergaben die Note 2,31, Stations- und Oberärzte 2,01 und die Anästhesisten die Note 1,96. Nahezu alle Patienten (97,7%) werden postoperativ nach Schmerzen befragt. Die Schmerzen dokumentieren 91,5 Prozent aller Pflegenden und Ärzte.
Auch wenn diese Zahlen positiver im Vergleich zu der Situation in den Heimen erscheint, erstaunt, welche Unkenntnis auch in der Klinik über das WHO-Stufenschema und die Interpretation der Schmerzskala herrscht. Eine Grenzwert zur Anpassung der Schmerztherapie kennen 61,6 Prozent der Anästhesisten, 53,6 Prozent der Pflegenden, und lediglich ein Viertel der Stations- und Oberärzte. Vielfach trauten sich die Ärzte nicht an die Opiate der Stufe II und III ran. Fast die Hälfte der Analgetika rekrutierte sich aus der Gruppe der nicht-opioiden Analgetika. Lediglich 35,2 Prozent der Patienten erhielt Opiatanalgetika der Stufe III, also Wirkstärke 1 (Morphin) und aufwärts.
Gut gemeint, schlecht gemacht
Pflegerisch-schmerzlindernde Maßnahmen wie Umlagern und Bewegen wurde nur bei 13 Prozent der Patienten dokumentiert, und dann vermutlich auch noch schlecht durchgeführt. 80 Prozent der Patienten vergaben für die Qualität und die Effizienz der Maßnahmen die Note „eher schlecht“ oder „schlecht“.
Kritik ist willkommen, aber bitte konstruktiv
Solche Ergebnisse rufen natürlich auch Kritiker auf den Plan. Der Mut und das Engagement der Institutionen darf aber gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sich öffentlich in die Karten gucken zu lassen und seine Fehler einzugestehen, ist anerkennenswert. Aus diesen Fehlern können und müssen nicht nur die beteiligten Institutionen lernen, sondern alle Einrichtungen in Deutschland oder gar Europa.
Ein derartiges Ziel und Versprechen, dass kein Patient über längere Zeit Schmerzen erleiden muss, weckt natürlich Hoffnungen bei den betroffenen Patienten. Und es ruft Kritiker, Skeptiker und sogar Zyniker auf die Bühne. Die Presse berichtet von Patienten aus der Umgebung, denen die Schmerzpraxen in Münster empfohlen werden. Die sind jedoch (Folge des Projektes?) überlaufen und können Patienten erst Termine in vier Monaten anbieten. Hausärzte können die aufwändige Schmerztherapie kaum leisten.
In Münster gibt es zu wenige niedergelassene Schmerztherapeuten, weshalb es zu den langen Wartezeiten kommt. Auf dem Land ist die Situation noch dramatischer. Die schmerztherapeutischen Strukturen sind über Jahrzehnte gewachsen und sind teilweise deutschlandweit desolat. Da kann man nicht erwarten, dass ein im März 2010 gestartetes Projekt innerhalb von so kurzer Zeit eine Heilung des Systems erreicht.
"Im Moment evaluieren wir die Ist-Situation", kommentierte Stephanie Hemling, Sprecherin der Initiative. Marianne Koch, Präsidentin der Deutschen Schmerzliga, lobte die Initiative in höchsten Tönen. Ziel soll es auch sein, die schmerztherapeutische Kompetenz des Hausarztes zu stärken. Auch für den Sprecher und Vorstand des Hausärzteverbunds Dr. Ralf Becker liegen hier Gründe für Kompetenzlücken: „Kenntnisse der Schmerztherapie sind ein wichtiger Bestandteil der ärztlichen Praxis. Eine fundierte Aus- und Weiterbildung ist deshalb unabdinglich“.
Prof. Osterbrink siedelt den Mangel sogar schon im Medizinstudium an: „Schmerzmanagement ist bis heute kein fester Bestandteil des medizinischen Curriculums. Angehende Ärzte können ihre Ausbildung durchlaufen, ohne sich mit dem Thema Schmerztherapie befassen zu müssen“.
Unerträglich mutet da der Zynismus eines Journalisten der Süddeutschen Zeitung an: „Die Kooperation der Kommune mit Pharmafirmen und Apothekenkammern lässt aber nichts Gutes ahnen. Vielleicht werden in der Rüstkammer des Rathauses demnächst säckeweise Schmerzmittel eingelagert, mit denen das übermütige Münsterland sediert und betäubt werden kann“.