Die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung ist ein enges Korsett, das Ärzte nicht selten daran hindert, Schmerz- und Suchtpatienten adäquat zu versorgen. Die aktuellen Änderungen der Verordnung bedeuten eine kleine Revolution in der Therapie.
Zur Klärung der Frage, wie die Substitutionstherapie bei Opiatabhängigen geregelt sein soll, ist vor etwa zwanzig Jahren die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) in Kraft getreten. Eine Anpassung der Verordnung nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen war überfällig. Seit dem 30.5.2017 ist die dritte Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung formal wirksam. Es gelten Übergangsvorschriften bis zur Veröffentlichung im Bundesanzeiger, die Bundesärztekammer (BÄK) muss bis zum 31. August 2017 zustimmen. Die Drogenbeauftragte Marlene Mortler verprach bereits im Europäischen Drogenbericht von 2014: „Gleichwohl gilt es, die Rahmenbedingungen der Substitutionsbehandlung weiter zu verbessern. Hierfür werde ich mich stark machen, damit die erforderlichen Angebote auch allen Opiatabhängigen zur Verfügung stehen.“ Sie hat ihr Wort gehalten. Auf dem 18. Interdisziplinären Suchtkongress in München Anfang Juli wurden die neue Leitlinie und die Änderung der BtMVV vorgestellt.
Nach § 5 der vorigen Fassung war das Ziel der Substitution noch sehr optimistisch definiert: „Behandlung der Opiatabhängigkeit mit dem Ziel der schrittweisen Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz einschließlich der Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszustandes.“ In der neuen Fassung gibt man sich realistischer: „Im Rahmen der ärztlichen Therapie soll eine Opioidabstinenz des Patienten angestrebt werden. Wesentliche Ziele der Substitution sind dabei insbesondere „die Sicherstellung des Überlebens, die Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszustandes.“ So simpel die Forderungen klingen, die Auswirkung haben Gewicht. Mit dieser neuen Zieldefinition ist ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden, der Arzt und Patient den Zwang zur Abstinenz nimmt und sich sehr stark an der Praxis orientiert. Die frühere Formulierung „Ziel der schrittweisen Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz“ wurde häufig als Zwang zu Abdosierungsversuchen interpretiert.
In begründeten Einzelfällen dürfen Substitutionsärzte ein Mittel an Patienten, die einen gefestigten Umgang mit ihrem Suchtverhalten haben, zur eigenverantwortlichen Einnahme künftig für den Bedarf von bis zu 30 Tagen verschreiben. Bislang war dies nur für den Bedarf von maximal sieben Tagen erlaubt. Der Katalog der Einrichtungen, die Substitutionsmittel ausgeben dürfen, wurde auf Rehabilitationseinrichtungen, Gesundheitsämter, auf Alten- und Pflegeheime sowie auf Hospize ausgeweitet. Besteht ambulanter Versorgungsbedarf, sollen Ärzte bei einem Hausbesuch künftig das Substitutionsmittel dem Patienten zum unmittelbaren Verbrauch überlassen können. Diese neue Regelung gilt auch für ambulante Pflegedienste.
Der ABDA gehen die Änderungen in einigen Punkten zu weit: „Apotheken leisten in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Beitrag, indem sie die Versorgung gewährleisten und im Rahmen der Rezepturherstellung, des Sichtbezuges und der Abgabe wesentlich zur Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs beitragen und diese durch entsprechende Dokumentation auch nachvollziehbar machen. Ein Bedarf für eine unmittelbare Abgabe des Substitutionsmittels durch den behandelnden Arzt an den Patienten besteht nicht“.
Bisher war ein Mischrezept im Rahmen der Substitution, also Vergabe unter Sicht und Take-Home auf einem Formular, strikt verboten. Mischrezepte sind nun erlaubt. Die ABDA bemängelt, dass die Apotheke einen nicht honorierten Mehraufwand durchführen muss. Die Dokumentationspflichten des behandelnden Arztes werden auf die Apotheke übertragen, gleichzeitig ergibt sich eine monatliche Informationspflicht über die Nachweisführung gegenüber dem ursprünglich verantwortlichen Arzt. Wenn der Arzt bei den 30-Tage-Verordnungen patientenindividuelle Verabreichungs- bzw.- Abgabezeitpunkte festlege, kommt auf die Apotheke ein erheblicher Aufwand zu. Dieser betrifft die Lagerung des Anbruchs des Substitutionsmittels, einen komplexen Abgabeprozess und eine erweiterte Dokumentation.
Die Take-home-Verschreibungen werden ausgeweitet. Die bisherige Zwei-Tage-Ausnahmeregelung wird beibehalten, der Überbrückungszeitraum aber auf bis zu maximal fünf Tagen ausgedehnt, wenn einem Wochenende Feiertage vorausgehen oder folgen – auch wenn ein Brückentag dazwischenliegt. Die Verschreibungen für bis zu sieben oder bis zu 30 Tage sind zudem nach dem Buchstaben „S“ zusätzlich mit dem Buchstaben „T“ zu kennzeichnen. Neu ist auch, dass der Patient das Substitutionsrezept für die Vergabe unter Sicht nun in der Praxis mitnehmen darf, früher musste es direkt an die Apotheke geliefert/geschickt werden. Auch die Urlaubsregelung ist den Erfordernissen angepasst worden. Früher war die Mitgabe des Substitutionsmittels nur bei einem Urlaub im Ausland möglich, diese Regel ist nun auch bei einem Inlandsurlaub möglich.
Bisher war für folgende Gruppen der Zugang zur Substitutionstherapie möglich: Abhängigkeit durch den Missbrauch von erlaubt erworbenen oder den Missbrauch von unerlaubt erworbenen oder erlangten Opioiden. Entwickelte ein Schmerzpatient durch die Verschreibung von Opioid-Analgetika eine Abhängigkeit, wurde er rechtlich wie ein Patient behandelt, der heroinabhängig ist. Er musste zu einem qualifizierten Arzt mit einem Fachkundenachweis Suchtmedizin und wurde in das Substitutionsregister eingetragen. Die Substitution lief nach dem engen Korsett des § 5 BtMVV ab. In der Änderungsverordnung gibt es nun eine weitere Gruppe: „Opioidabhängigkeiten, die als unerwünschte Nebenwirkung rechtmäßig verschriebener und erworbener Opioide auftreten, ohne dass ein Missbrauch des Opioids vorliegt.“ Die Therapie solcher iatrogener Abhängigkeiten findet ihre rechtliche Grundlage nur in der allgemeinen Verschreibungsvorschrift des § 13 Absatz 1 BtMG. Diese Änderung hat unfassbar weitreichende Konsequenzen für die Praxis. Nun darf jeder Arzt einen Schmerzpatienten, der eine Abhängigkeit entwickelt hat, mit Substitutionsmedikamenten versorgen, und das, ohne ihn dabei in das Substitutionsregister eintragen zu müssen. POM statt Sucht Die Praxisleitlinie „Substitutionsbehandlung bei Opioidfehlgebrauch in der Schmerztherapie“ der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie spricht differenzierte Empfehlungen aus, wie eine Substitutionsbehandlung bei Schmerzpatienten ablaufen soll. Die iatrogen erzeugte Abhängigkeit wird als POM, Prescription Opioid Misuse, bezeichnet. Die Leitlinie befindet sich derzeit in der öffentlichen Kommentierungsphase. Unter 1 % bis maximal ca. 3 % der Patienten entwickeln in Deutschland im Rahmen einer Langzeitverordnung von Opioiden zur Schmerztherapie einen „Fehlgebrauch“ des Opioids verbunden mit psychischen Abhängigkeitssymptomen im Sinne eines Suchtverhaltens. Der bisherige Begriff Abhängigkeit wurde allzu häufig mit „Sucht“ gleichgesetzt, während Abhängigkeit genauso auch eine normale Körperantwort auf eine Substanz sein kann. Es werden insgesamt 11 mögliche Kriterien für die Substanzgebrauchsstörung benannt (s.u.). Beim Auftreten von mindestens 2 Merkmalen innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums gilt die Diagnose einer Substanzgebrauchsstörung (POM) als erfüllt. Die Schwere der Symptomatik wird weiter spezifiziert. Das Vorliegen von 2-3 Kriterien wird als moderat eingestuft, vier oder mehr Kriterien fallen in die Kategorie schwer. Die insgesamt 11 möglichen Kriterien für die Substanzgebrauchsstörung:
Die Leitlinie empfiehlt eine Substitutionstherapie: Zunächst ist eine schrittweise Dosisreduktion im Rahmen einer „strukturierten Opioidtherapie“ zu versuchen. Die Substitutionsbehandlung mit dafür ausgewiesenen und zugelassenen Opioiden hat ihren Nutzen im Hinblick auf die Therapieziele belegt. POM-Patienten benötigen aus den bislang wenigen Erfahrungen heraus eine substitutionsgestützte ambulante Entwöhnungstherapie für mindestens 3 Monate. Es kann einen darüber hinaus gehenden langwierigen Prozess in Anspruch nehmen.
In Deutschland sind Methadon, Levomethadon, retardiertes Morphin und Buprenorphin allein oder in Kombination mit Naloxon zugelassen. Die DGS hat einen klaren Favoriten: Buprenorphin als Monosubstanz. „Das pharmakologische und pharmakodynamische Profil sowie sein Sicherheitsprofil lassen Buprenorphin als die Erstlinien- Empfehlung für die Substitutionstherapie von POM-Patienten erscheinen.“ Die erscheint aus vielen Gründen für sinnvoll. Die sublingual verabreichte Substanz hat eine große therapeutische Breite, das Risiko einer Atemdepression ist sehr gering, es werden sehr viele Opiatrezeptoren besetzt und durch das partialagonistische und antagonistische Wirkungsspektrum wird die Vigilanz des Patienten nicht gemindert. Ein weiterer Vorteil ist sicherlich auch die fehlende Stigmatisierung. Ein Schmerzpatient wird sich im „Methadon-Programm“ diffamiert fühlen. Für die Kombination mit Naloxon sieht die DGS keine Notwendigkeit, da das Missbrauchsrisiko bei den POM-Patienten sehr gering ist. „Der Evidenzgrad zur Anwendung von Methadon/Levomethadon bei POM-Patienten scheint eher gering“, so die Leitlinie über das meist verordnete Substitut. Auch retardiertes Morphin wird nicht empfohlen: „Für die Anwendung bei der Klientel der POM-Patienten findet sich keine Literaturempfehlung. Es fehlt auch in gewisser Weise die klinische Rationale, denn es handelt sich hier um die Empfehlung der Herabdosierung eines mü-Agonisten durch einen anderen, was man auch ohne das Um-Labeln der opioid-gestützten Schmerztherapie in eine strukturierte Herabdosierung bewerkstelligen könnte.“ Einfacher ausgedrückt: Es hat keinen Sinn, ein vollagonistisches Opioidanalgetikum durch ein vollagonistisches Substitut zu ersetzen. Die DGS folgt in vielen Aspekten der Empfehlung der Mayo-Clinik aus dem Jahr 2015.
Dr. Wilfried Kunstmann von der Bundesärztekammer referierte auf dem Münchener Suchtkongress über die Änderung der BtMVV: „Ziel ist es, ein größeres Maß an Rechtssicherheit für substituierende Ärzte zu schaffen und Ärzte zu einer breiteren Teilnahme an diesem Versorgungsbereich zu motivieren.“ Der Kongressleiter, Prof. Markus Backmund beklagte in seinem Grußwort, dass die Spezialisten der Suchtmedizin und Suchttherapie innerhalb der Medizin noch stark unterrepräsentiert sind.