Die erhitzten Gemüter um Blutungen unter Pradaxa® haben sich abgekühlt. Die Zweifel an den modernen Blutverdünnern sind weniger geworden. Im Fokus stehen nun Fragen wie die, welche Vorhofflimmer-Kranken ein neues Präparat erhalten sollten - und auch welches Präparat.
Unstrittig ist, dass es noch einige unbeantwortete Fragen und auch Unsicherheit im Umgang mit den neuen Präparaten gibt. Eine der zentralen Fragen für die klinische Praxis ist etwa die, wie - mit welchen „Risiko-Scores“ - in einem konkreten Fall das Risiko für einen ischämischen Schlaganfall mit dem einer Blutung abgewogen werden sollte. Diskutiert wird laut dem niederländischen Wissenschaftler Dr. Menno V. Huisman auch über das beste Prozedere bei Patienten in der Akutphase eines Schlaganfalls, das Vorgehen bei Patienten mit Katheter-Ablation und medikamenten-resistentem Vorhofflimmern.
Unklar ist noch der Nutzen bei Patienten mit mechanischen Herzklappen. Und wie bei den meisten neuen Präparaten gibt es noch keine Daten aus Langzeit-Studien und genügend Alltags-Erfahrungen. Für Apixaban fehlen außerdem noch Zulassungen für die Indikation Schlaganfall-Prävention bei Vorhofflimmern. Laut Pfizer und Bristol-Myers Squibb hat die FDA den Tag ihrer Entscheidung über den Zulassungsantrag für den Gerinnungshemmer bei Vorhofflimmern um wenige Monate verschoben, wobei derzeit über Mai und Juni spekuliert wird. Möglicher Hintergrund sind die Diskussionen um Blutungen im Zusammenhang mit Dabigatran. Und der vierte neue Blutverdünner Edaxaban ist bislang nur in Japan zugelassen - und das auch nur für die Indikation Thromboembolie-Prophylaxe nach großen Gelenk-Operationen.
Strittig wird vielleicht bleiben, ob die neuen Blutverdünner in den Zulassungsstudien „bevorzugt“ wurden, indem die Qualität der Gerinnungseinstellung mit dem Vergleichs-Präparat (Warfarin) nicht optimal gewesen sei. Ein Maß für die Qualität ist die Zeit, in der die INR sich im Normbereich befindet. Ein Wert von mindestens 60 Prozent gilt laut Professor Samuel Goldhaber von der „Harvard Medical School“ in Boston als ausgezeichnet. In den meisten Zulassungsstudien der neuen Substanzen war dieses Qualitätskriterium erfüllt. Allein in der Rivaroxaban-Zulassungsstudie Rocket AF lag dieser Prozentsatz unter 60 Prozent, was auch zu einigen kontroversen Diskussionen geführt hat. Wahrscheinlich wird es auch nie große Studien geben, in denen die neuen Präparate nicht gegen Warfarin, sondern gegen den in Deutschland üblichen Marcumar® (Phenprocoumon) oder auch gegen das in der Schweiz und auch Frankreich häufiger verwendete Sintrom® (Acenocoumarol) müssen.
Zunehmender Konsens
Trotz vieler noch unbeantworteter Fragen und Unsicherheiten besteht gleichwohl zunehmender Konsens darin, dass die neuen Wirkstoffe Dabigatran, Apixaban, Rivaroxaban und vermutlich auch der Faktor Xa-Hemmer Edoxaban einige Vorteile im Vergleich zum Klassiker Warfarin haben, insbesondere die bei mindestens gleicher Wirksamkeit geringere Rate schwerer, vor allem intrakranieller Blutungen. Die Häufigkeit intrakranieller Blutungen unter den neuen Wirkstoffen, die anders als Warfarin nicht die Blut-Hirn-Schranke überschritten, sei immerhin um 40 bis rund 80 Prozent vermindert worden, so etwa Professor Hans-Christoph Diener bei einer von Boehringer Ingelheim unterstützen Fortbildungsveranstaltung in den USA. Die neuen Blutverdünner hätten in der Primär- und Sekundär-Prävention von Schlaganfällen gleich positive Ergebnisse erzielt und werden Warfarin auf lange Sicht hin ablösen, prognostiziert Diener daher. Und wären Vitamin-K-Antagonisten wie Warfarin oder das in Deutschland übliche Marcumar® nicht seit Jahren etabliert, würden sie heute wahrscheinlich als gefährlich beurteilt werden, die Zeit für neue Substanzen sei also gekommen, so Diener, einer der Autoren der Dabigatran-Zulassungsstudie RE-LY.
Strittig: erste oder zweite Wahl
Diener steht mit seiner Einschätzung nicht alleine dar: Apixaban, Dabigatran und Rivaroxaban sind wahrscheinlich alle drei nicht allein nach klinischen Studien in der Schlaganfall-Prävention bei Hochrisiko-Patienten besser als Warfarin, sondern auch im klinischen Alltag. Zu dieser Schlussfolgerung kamen kürzlich britische Forscher um Dr. Amitava Banerjee (Universität von Birmingham) aufgrund einer Analyse von Daten eines dänischen Registers („Thrombosis and Haemostasis“). Und nach den gerade aktualisierten Leitlinien der kanadischen Kardiologen-Gesellschaft sollten Rivaroxaban, Dabigatran und Apixaban sogar bevorzugt werden - außer bei Patienten, die gut mit ihrem „Klassiker“ eingestellt sind. Konsens ist es jedoch nicht, dass die neuen Präparate die Therapie der ersten Wahl sein sollten. Nur einer der Gegner ist etwa der US-Kardiologe Dr. Jack Ansell vom „Lenox Hill Hospital“ in New York, der vor wenigen Wochen im Kardiologen-Fachmagazin „Circulation“ auf Nachteile der neuen Wirkstoffe hingewiesen hat, etwa die hohen Kosten, das Fehlen einer Möglichkeit, die Therapie-Treue von Patienten zu überwachen, und das durch eine geringe Halbwertszeit bedingte Problem des mangelnden Schlaganfall-Schutzes bei Patienten mit schlechter Compliance.
Welche Patienten?
Wer soll nun einen neuen Gerinnungshemmer erhalten? Eine „Zielgruppe“ sind sicher jene Patienten mit Vorhofflimmern, die trotz Indikation nicht antikoagulativ behandelt werden, etwa weil sie es ablehnen“, „Rattengift“ zu nehmen, weil sie oder auch der behandelnde Arzt Blutungen befürchten, weil Kontraindikationen für eine Vitamin-K-Therapie bestehen oder auch, weil das Vorhofflimmern noch gar nicht diagnostiziert worden ist.
In Deutschland werde bei Vorhofflimmer-Patienten die Antikoagulation deutlich zu wenig eingesetzt, meldete kürzlich etwa eine Arbeitsgruppe um Dr. Thomas Wilke vom Institut für Pharmakoökonomie und Arzneimittellogistik (Hochschule Wismar). In Zusammenarbeit unter anderen mit Boehringer Ingelheim und dem WINEG (Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen) hat Wilke Krankenkassen-Daten des Jahres 2008 ausgewertet („Thrombosis and Haemostasis“). Ausgewählt wurden Patienten nach dem CHADS2- und dem CHA2DS2-VA-Score. 183 448 erfüllten die Kriterien für die Aufnahme in die Studie. Der durchschnittliche CHADS2-Score betrug 2,8 (CHA2DS2-VA-Score: 4,3).
Ergebnis: An 40 bis knapp 49 Prozent der Patienten-Tage wurde keine Antikoagulation vorgenommen. Nach den publizierten Daten würden nur 40 bis 60 Prozent der in Frage kommenden Patienten antikoagulativ behandelt, so auch der Heidelberger Schlaganfall-Forscher Professor Werner Hacke. Und: Von den behandelten Patienten erreiche nur die Hälfte den angestrebten INR-Normbereich. Nur etwa 50 Prozent der Vorhofflimmer-Patienten erhielten trotz fehlender Kontraindikationen Warfarin oder Phenprocoumon, bestätigt auch Diener.
Ideale Patienten für die neuen Präparate sind nach Angaben des Neurologen:
Keine Indikation für die die neuen Blutverdünner besteht dann, wenn ein Patient gut mit einem Vitamin-K-Antagonisten eingestellt ist und zurecht kommt. Bei optimaler INR-Einstellung unter Warfarin beträgt laut Diener die Risikoreduktion für ischämische Schlaganfälle immerhin fast 80 Prozent. Und selbstverständlich ist auch bei den neuen Substanzen auf Gegenanzeigen zu achten, etwa eine schwere Niereninsuffizienz, oder auch auf das Körpergewicht und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.
Der „Kampf der Diadochen“
Welches neue Präparat sollte nun gewählt werden? Um es gleich vorweg zu sagen: Die Frage, welcher der drei verfügbaren neuen Gerinnungshemmer erste, zweite oder dritte Wahl sei, kann derzeit nicht beantwortet werden, zumindest nicht auf der Basis der vorhandenen Studien. Dazu müssten es direkte Vergleichsstudien geben. Die gibt es nicht und wird es nach Ansicht von Diener aller Wahrscheinlichkeit auch nie geben („International Journal of Stroke“). Die Daten reichten nicht aus, um hier schon ein definitives Urteil fällen zu können, meinen auch die britischen Forscher um Dr. Amitava Banerjee („Thrombosis and Haemostasis“). Derzeit sei es noch unmöglich, aufgrund der klinischen Studien zu sagen, welches Präparat besser sei als das andere. Die drei relevanten Zulassungsstudien seien teilweise zu unterschiedlich. Sicher sei nur, dass die drei Wirkstoffe vor allem (aber nicht nur) bei hohem Schlaganfall-Risiko (CHA2DS2-VA-Score mindestens 2 oder CHADS2-Score ≥1) dem „Klassiker“ überlegen seien - und zwar unabhängig vom Blutungs-Risiko.
Welches Präparat den „Kampf der Diadochen“ um die Nachfolge des „Königs“ Warfarin“, wie es der Essener Neurologe formuliert hat, gewinnen wird, ist vielleicht auch sekundär. Wichtiger ist: Es gebe, so Diener, endlich eine Auswahl. Eine mögliche Orientierungshilfe dafür die Entscheidung biete die so genannte „Zahl der Patienten, die behandelt werden müssen, um einen Schlaganfall zu verhindern („numbers oft patients to be treated“). Sie beträgt für
Während Dabigatran Vorteile bei der Prävention ischämischer Schlaganfälle habe, besitze Apixaban Vorteile bei der Reduktion der Blutungs-Komplikationen. Und Rivaroxaban sei möglicherweise für Patienten mit besonders hohem Schlaganfall-Risiko gut geeignet. Aber das sind, wie Diener betont, nur Orientierungshilfen auf der Basis der klinischen Studien. Und klinische Studien sind bekanntlich nicht der Weisheit letzter Schluss.