Obamacare verbesserte die Situation für viele Amerikaner ohne Versicherung. Aber nicht für alle: Trotz Reform fallen Menschen durch das Raster. Eine Klinik in Chicago kümmert sich um diese Fälle. Was passiert, wenn die Trump-Regierung die Gesetze rückgängig macht?
Als die beiden Ärzte George Maltezos und Charles Martinez vor zehn Jahren in Chicago eine Klinik mit kostenloser Versorgung gründen wollten, hagelte es statt Begeisterung erst einmal Proteste. So ein Ort würde doch nur Leute anziehen, die man hier in der Gegend nicht wolle – Heruntergekommene und Junkies, beschwerten sich die Nachbarn. Also luden Maltezos und Martinez die Anwohner zu einer Bürgerversammlung ein. Dort meldete sich eine 55-jährige Frau zu Wort: Sie wohne ihr ganzes Leben schon in der Gegend, arbeite seit über 30 Jahren an der Kasse im Supermarkt. Für eine Krankenversicherung habe das im amerikanischen System nicht gereicht. In der geplanten Klinik könnte sie sich trotzdem behandeln lassen. „Sind es Menschen wie ich, die ihr hier nicht haben wollt?“, fragte sie. 2007 setzten die beiden Ärzte ihren Plan in die Tat um und eröffneten die Old Irving Park Community Clinic. Old Irving Park gehört nicht zu den ärmsten Vierteln Chicagos, die Bewohner würde man anhand ihres Einkommens in der unteren Mittelklasse einordnen. Viele Einwandererfamilien aus Südamerika und Polen leben hier, deshalb gibt es in der Klinik auch Übersetzer.
Den Standort im Nordwesten Chicagos hatten die beiden Gründer gewählt, weil die Versorgungsdichte dort besonders schlecht war. Martinez hatte lange Jahre als Spezialist für Nuklearmedizin gearbeitet. Maltezos – ein Freund aus Kindheitstagen – als Suchttherapeut. Als Martinez seinen Ruhestand antreten wollte, hatte Maltezos ihn von der Idee überzeugt, die Klinik für Unversicherte zu gründen. „Uns beiden war während unseres Berufslebens immer bewusst gewesen, dass es dort draußen viele Menschen gibt, die nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchen.“ sagt Martinez. Old Irving Park Community Clinic © Habich Die Praxisräume liegen an einer vielbefahrenen Straße. Im Fenster hängt ein großes Schild: „Free medical care for the uninsured“. Am Empfang werden Neuankömmlinge freundlicher behandelt, als in so manch deutscher Privatpraxis. Das Wartezimmer ist fliederfarben gestrichen, eine Broschüre mit dem Titel „Does your drink make you fat?“ klärt über den Kaloriengehalt von Softdrinks auf. Adipositas und Diabetes gehören zu den häufigsten Gesundheitsproblemen der Klinikpatienten – und der restlichen amerikanischen Bevölkerung. Insgesamt ist das Angebot aber breit. Egal ob jemand einen Gynäkologen, Nephrologen oder Psychiater benötigt – in der Klinik gibt es Sprechstunden von Spezialisten neun verschiedener Fachrichtungen. Die technische Ausstattung ermöglicht unter anderem Netzhautscans und EKGs. Klinikmanagerin Chris Kuzich erzählt, die Klinik sei langsam gewachsen, anfangs gab es eine Startfinanzierung durch eine Kirche. „Alles, was sie hier sehen“, sagt sie, und zeigt auf die Möbel im zweckmäßig eingerichteten Besprechungsraum, „sind Spenden.‟
Außer zwei Vollzeitangestellten und sechs Teilzeitkräften arbeiten hier alle ohne Bezahlung, für ein paar Stunden pro Woche. Labore geben für Analysen Rabatt und es bestehen Partnerschaften mit Krankenhäusern, die Patienten operieren, wenn Ärzte der Community Clinic sie dorthin überweisen. Voraussetzung, um in der Klinik behandelt zu werden, ist, dass jemand keine Versicherung hat und sein Einkommen bestimmte Grenzwerte nicht überschreitet. Dazu wird ein Aufnahmeantrag ausgefüllt. „Wir können nicht jeden Einzelnen genau überprüfen“, sagt Kuzich, es gehe auch um Vertrauen. Gut 95 Prozent ihrer Patienten seien aber mit Sicherheit hilfebedürftig, sagen Kuzich und Martinez.
Etwa 400 Patienten nimmt die Klinik pro Jahr neu auf. Nach der Verabschiedung der Obamacare-Reform in 2010 war die Nachfrage erst einmal gesunken, die Zahl der unversicherten Amerikaner hat seitdem drastisch abgenommen. In 2010 gab es noch 48 Millionen Amerikaner ohne Versicherungsschutz, im vergangenen Jahr waren es „nur noch“ 28,6 Millionen. Doch wenn es der Trump-Regierung wie geplant gelingen sollte, das Gesetz rückgängig zu machen, dürfte die Zahl bald wieder steigen. Nach Hochrechnungen des unparteiischen Congressional Budget Office würden dadurch innerhalb eines Jahres 14 Millionen Menschen ihren Versicherungsschutz verlieren, und innerhalb der nächsten zehn Jahre 23 Millionen. Kriegt jeder, der sie braucht, in den USA trotzdem medizinische Hilfe? Kuzich sagt: „Ja, aber man muss dafür sehr beharrlich sein.“ Martinez sagt, es gebe durchaus Menschen, die früher sterben, weil sie keine adäquate Versorgung bekommen haben. Krankenhäuser in den USA müssen einen Teil ihrer Operationen für Bedürftige ohne Versicherung als „Charity-Leistung“ anbieten. Und „im medizinischen Notfall“ dürfen die Emergency-Rooms niemandem die Behandlung versagen. Um als ein solcher Notfall eingestuft zu werden, reicht es aber zum Beispiel nicht, an Krebs erkrankt zu sein – man muss sich eigentlich schon mitten im Sterbeprozess befinden. Auch Medikamente gegen lebensbedrohliche Krankheiten kann man eigentlich ohne Versicherungsschutz bekommen. „Man muss das aber wissen, und man muss wissen, wo“, sagt Kuzich. Viele wissen es nicht. Martin Yorath © Habich Martin Yorath kommt ein- bis zweimal die Woche nach seinem Feierabend in die Community Clinic und versorgt ohne Bezahlung Patienten. Was ihn zu seinem Einsatz bewegt, erklärt Yorath so: „Uns Ärzten geht es hier in den Staaten relativ gut. Ich möchte der Gemeinschaft gerne etwas zurückgeben.“ Yorath behandelt nicht nur Unversicherte in den USA. Er reist auch immer wieder in Länder wie Indien, Eritrea oder den Sudan, um dort zu helfen. Ohne den Auftrag einer NGO, ganz auf eigene Faust. Das Gesundheitssystem, dass sich Yorath für sein Land und für die Welt wünschen würde: Eines, das allen eine Versorgung bietet. So denkt allerdings nicht jeder. Eine ehemalige Kollegin von Klinikgründer Martinez sprach sich gegen die Hilfe für Unversicherte aus. Es gebe ja schon genug Möglichkeiten, schließlich könnte man jederzeit in die Notaufnahme gehen. „Da habe ich ihr gesagt, sie sollte das mal einen Monat lang mit ihrer kleinen Tochter ausprobieren“, sagt Martinez. Danach war Ruhe.
Wie aber ist es überhaupt möglich, dass im amerikanischen System immer noch so viele Menschen durch das Raster fallen? Lange Zeit war eine Krankenversicherung für US-Amerikaner freiwillig. Arbeitgeber konnten ihre Angestellten versichern, sie mussten es aber nicht. Und wer auf eigene Faust eine Versicherung suchte, hatte in der Vergangenheit oft ein Problem: Denn die Krankenkassen gaben sich wählerisch. Menschen mit sogenannten „pre-existing conditions“, speziellen, von den Versicherern definierten Risiken, bekamen oft keine Verträge angeboten oder nur solche mit unbezahlbarer Beiträgen. Wer Asthma hatte, in der Vergangenheit bereits einmal an Krebs oder einer Depression erkrankt war, für den war es schwierig, eine bezahlbare Versicherung zu finden. Also gerade für diejenigen, die sie dringend benötigten. Obamacare hatte der ethisch fragwürdigen Selektionspraxis einen Riegel vorgeschoben und die Versicherungspflicht eingeführt. Zudem zwang Obama größere Unternehmen dazu, zumindest ihre Vollzeitangestellten abzusichern. Diese müssen nun, ähnlich wie in Deutschland, einen Arbeitnehmeranteil zahlen.
Außerdem wurden Pools mit Versicherungsangeboten eingerichtet, die für alle mit gutem bis mittlerem Einkommen bezahlbar sein sollten. Wer unter eine bestimmte Einkommensgrenze fällt, kann Medicaid beantragen, eine Art Sozialleistung des Staates. Unter Obamacare wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet – was nun, wie andere Kernpunkte der Reform, wieder rückgängig gemacht werden soll. Zusätzlich gibt es Medicare, ein Programm für Ältere ab 65 Jahren. Manche Menschen haben auf Leistungen aus beiden Programmen Anspruch. Unter Obamacare wurden Strafzahlungen für alle eingeführt, die keinen Vertrag mit einer Versicherung abschließen. Das führte bei all denen zu Frust, für die auch dieser finanzielle Aufwand noch zu hoch ist – auch weil oft größere Summen als Selbstbehalt vorgesehen sind. Ein weiterer Schwachpunkt: Es hatten eben nicht wie vorgesehen alle, die vorher unversichert waren, eine Versicherung aus dem Pool abgeschlossen, sondern vorrangig Kranke. Es wurde erst einmal teurer für die Kassen – die ja vorher Bedürftige ablehnen durften.
In die Old Irving Park Community Clinic kommen Menschen, die trotz Obamacare immer noch ohne Versicherung dastehen – weil eine Versicherung weiterhin zu viel kostet, aber ihr Einkommen für den Anspruch auf staatliche Hilfen als zu hoch eingestuft wird. „Es sind keine Arbeitslosen, sondern kleinere Angestellte, die bei Fastfoodketten in Teilzeit arbeiten oder bei einem kleinen Arbeitgeber“, sagt Kuzich. Anstatt nun aber Obamacare an den entscheidenden Punkten nachzubessern, plant die Trump-Regierung die Haupterrungenschaften des Gesetzes zu streichen – und zum Beispiel utopische Preise bei Vorerkrankungen wieder zu erlauben. Fürchtet man in Old Irving Park überrannt zu werden, wenn Millionen erneut ihren Versicherungsschutz verlieren? „Wir haben keine Zeit, uns um solche Frage Gedanken zu machen“, sagt Martinez und Kuzich. Das soll heißen: Sie sind damit beschäftigt, denen zu helfen, die es jetzt schon brauchen.