Es gibt immer ein erstes Mal, sei es jetzt im Privatleben, Studium oder Berufsleben. Und so gibt es auch für Medizinstudenten einige erste Male bis zum Abschluss ihres Studiums. Zum Beispiel die erste Anamnese, mit der wir uns heute für Euch befassen!
Heute sollte also der große Tag sein. Das erste Mal. Selbstständig eine Anamnese erheben. An einem echten Patienten. Da standen wir nun – mittlerweile ist es etwa fünf Jahre her – mein Kommilitone und ich, ganz stolz in unseren weißen Kitteln, in der Tasche Stethoskop, Reflexhammer und Pupillenlampe. Mit feuchten Händen und ein wenig nervös warteten wir in der Aufnahme der Dermatologischen Klinik darauf, dass uns im Rahmen des Kurses "Unterricht am Patienten" unser erster eigener Anamnesefall zugewiesen wurde. Kurse zum Thema hatten wir ja eigentlich genug gehabt. Und genügend dazu gelesen. Jetzt kam es darauf an. Würden wir herausfinden, was für ein Krankheitsbild sich uns bot? Mit der Theorie kannten wir uns ja schließlich aus, dachten wir…
Der Stationsarzt Dr. K. führte uns zu einem der Patientenzimmer. Er gab uns noch kurze Anweisungen und sagte, wir hätten eine halbe Stunde Zeit - was viel ist, wenn man den Klinikalltag erst einmal kennengelernt hat. Normalerweise stehen einem zwischen fünf und fünfzehn Minuten für eine Anamnese zur Verfügung. Dann schob er uns durch die Türe und sagte noch „das Bett hinten rechts“ und war verschwunden.
Wir sahen uns an. Na dann los. Wir beschlossen, uns mit dem Schreiben und Fragen abzuwechseln – sonst würde es zu unübersichtlich werden. Also legte ich los. „Aufgrund welcher Beschwerden sind sie in diese Klinik gekommen?“ So stellte ich einige Fragen, bekam aber kaum verwertbare Antworten darauf. So einfach war es nicht, etwas aus dem älteren Herrn herauszubekommen, denn er war schwerhörig, sprach einen starken Dialekt und hatte offenbar auch keine große Lust mit uns zu reden.
Üben, Üben, Üben
Als mein Kommilitone allerdings nach Erkrankungen in seiner Verwandtschaft fragte, lockerte sich seine Zunge. Sein Urgroßvater hätte einen „Pimfikus“ gehabt. Das war zumindest, was wir verstanden. Wir hatten natürlich keinen blassen Schimmer, wovon er sprach. Dann begann er vom Postboten zu erzählen, der damals – zu Zeiten seines Urgroßvaters – auf einem Schimmel angeritten kam, um die Post auszutragen. Und und und. Auf einmal ging die Tür auf. „Seid Ihr fertig?“, wollte Dr. K. wissen. „Hm, ja, naja.“ Also verabschiedeten wir uns von unserem Patienten, der immer noch – mittlerweile seinem Bettnachbarn – Geschichten von seinem Urgroßvater erzählte.
Im Besprechungszimmer angekommen, verlasen wir unsere sehr spärlichen Informationen und beichteten Dr. K., dass wir leider „irgendwie gar nicht mehr zu Wort gekommen“ seien, keine Ahnung hatten, an welchem Krankheitsbild der Patient litt und was ein Pimfikus wäre, wüssten wir leider auch nicht. Dr. K. schmunzelte. Er erklärte uns zunächst kurz, weshalb der Patient in Behandlung war, ein Basaliom an der Wange, worum es sich bei einem Pemphigus vulgaris handelt. Das ist eine blasenbildende Autoimmunerkrankung der Haut. Er setzte sich geduldig mit uns zusammen und begann, die wichtigen Punkte einer Anamneseerhebung, die eben nicht in den Büchern zu finden sind, mit uns zu besprechen - Theorie und Praxis sehen nämlich doch nicht immer gleich aus. Und daher hieße es, wie so oft, auch bei der Anamneseerhebung „Üben, Üben, Üben“.
Und ich versichere Euch, das Üben ist tatsächlich das A & O der Patientenanamnese. Trotzdem darf natürlich eine solide theoretische Grundlage nicht fehlen. Es gibt eine Menge guter Literatur zur Anamneseerhebung und auch wenn man nun vielleicht denken mag, „was, zu dem Thema soll ich auch noch die Bücher wälzen?“, lohnt es sich wirklich, ab und an einen Blick hineinzuwerfen. Aus meiner eigenen Erfahrung und derer meiner Kommilitonen kann ich folgende Wälzer empfehlen. Jeder muss aber natürlich, wie immer, das für ihn passende Buch auswählen:
Auf den Patienten einstellen
Die Herausforderungen einer guten Anamnese waren für mich vor allem folgende:
Man spricht nicht nur mit dem Patienten, man muss sich wirklich auf ihn einstellen. Man sollte versuchen, in „seiner Sprache“ zu sprechen – denn es ist etwas anderes, ob man einen Mediziner oder einen „Laien“ vor sich hat. Frage z.B. nicht nach „Diabetes mellitus“, sondern nach „Zuckerkrankheit“ und statt „Hypertonus“ sage einfach „Bluthochdruck“, ob es sich nun um ein Kind oder einen 90jährigen handelt.
Man sollte sich sicher sein, dass der Patient die Fragen versteht und sie auch dementsprechend beantwortet und nicht nur mit dem Kopf nickt, weil er sich nicht traut, zuzugeben, dass er dem ärztlichen Kauderwelsch nicht folgen kann. Wo es nötig ist, sollte man mit Nachdruck nachfragen. Und vor allem: Man darf sich nicht vom Patienten mit Informationen „überfahren“ lassen. Manche Patienten beginnen ausführlich von einer 50 Jahre zurückliegenden Durchfallerkrankung zu berichten – oder eventuell vom Kindergeburtstag ihrer Enkelin. Wenn das nicht wirklich wichtig ist, versuche die Anekdote bestimmt und höflich zu stoppen und führe den Patienten wieder auf den richtigen und aktuellen Weg.
Hat ein Patient ein außerordentliches Redebedürfnis, sollte man das trotzdem nicht ignorieren, da es oft auf ein verarmtes soziales Leben hindeuten kann. Hat man selbst keine Zeit, sich näher damit zu befassen, gibt es immer die Möglichkeit der Klinikseelsorge, denn für eine Genesung ist es auch wichtig, dass sich der Patient auch psychisch in einem guten Zustand befindet.
Fremdanamnese bei besonderen Fällen
Eine Anamnese wird natürlich je nach Situation (Notfall, elektiver Eingriff, Routinecheck,…) unterschiedlich umfangreich und mit verschiedenen Schwerpunkten geführt. Falls der Patient selbst nicht bei Bewusstsein oder nicht urteils- bzw. zurechnungsfähig ist, gibt es immer noch die Möglichkeit, eine Fremdanamnese mit einer nahestehenden Person zu führen, was die Eigenanamnese allerdings im Normalfall lediglich ergänzen kann.
Die Eckpfeiler der Anamnese
Die wichtigsten Punkte einer Anamnese seien in aller Kürze im Folgenden zusammengefasst:
Hauptsymptome TIPP: Die Fragen „Was führt Sie heute zu uns? oder „Warum haben Sie unsere Klinik/Praxis aufgesucht?“ bieten einen guten Einstieg ins aktuelle Krankheitsgeschehen. Lasst Euch nur nicht überrumpeln und ausführlich von den letzten dreißig Jahren Patientenvita erzählen, sondern versucht die aktuellen Beschwerden, deren Dauer, bisherige Diagnostik und Therapieversuche herauszukriegen.
Medizinische Vorgeschichte TIPP: Nach Voroperationen fragen und vor allem nach malignen und chronischen Erkrankungen. Manchmal muss gezielt nachgefragt werden, da die Patienten oft eine so lange Krankengeschichte haben, dass sie einfach vergessen, wichtige Fakten zu erwähnen.
Medikamentenanamnese TIPP: Aktuelle Medikation gleich mit in die Dosierung aufnehmen. Viele Patienten haben schon eine Liste ihrer aktuellen Medikation dabei. Lasst Euch diese geben, bevor ihr verzweifelt versucht, mit dem Patienten ein Medikamentennamen-Ratespiel zu spielen.
Allergien TIPP: Wichtig sind für die Klinik vor allem zuvor diagnostizierte allergische Reaktionen auf Medikamente, Iod, Pflaster und Nahrungsmittel – hier auch ganz gezielt fragen.
Sozialanamnese TIPP: Nach Nikotin, Alkohol, Drogen und Sexualanamnese immer so direkt wie nötig und diskret wie möglich fragen. Die Patienten werden von sich aus hier nur selten etwas erwähnen, da es sich hierbei um sehr private Themen handelt. Wenn man jedoch das Vertrauen der Patienten gewinnen kann und höflich nachfragt, wundert man sich, wie schnell sich die Patienten öffnen.
Familienanamnese TIPP: Lasst Euch nicht zehn Minuten vom Hund der Nichte erzählen. Fragt, wenn nötig, konkret nach Erkrankungen (v.a. maligne und genetische Erkrankungen) und Todesursachen naher Verwandter.
Ich habe anfangs den Merkspruch „HaMMA SoFa“ benutzt – ich weiß, ein wenig bizarr, aber so sind Merksprüche nunmal. Mit der Zeit geht es schneller und schneller und immer besser. Und auch wenn die Zeit manchmal knapp ist, lasst Euch nicht zu sehr aus der Ruhe bringen und erhebt die Anamnese so vollständig wie möglich. Schon der gute alte Hippokrates stellte einst fest: "Der Arzt hat zuerst das "Ganze der Natur" zu kennen, bevor er den Patienten behandeln kann" und forderte „ein Arzt habe sich auf sorgfältige […] Befragung […] zu stützen, um seine Diagnose und Therapie systematisch zu erarbeiten“. Also: Holt Euch jede Anamnese, die ihr bekommen könnt. Denn, wenn ihr erst in der Lage seid, die richtigen und wichtigen Informationen aus einem Patienten „herauszukitzeln“, könnt ihr sowohl euch als auch dem Patienten oft eine Menge Arbeit und Ärger ersparen.