Was hat Charles Darwins Theorie mit der modernen Krebsforschung zu tun? Mehr als man denkt, denn maligne Zellen machen eine Evolution im Zeitraffer durch. Jetzt versuchen Forscher, diesen Prozess umzukehren: Anstatt Krebs zu eliminieren, sollen entartete Zellen wieder durch natürliche Prozesse kontrolliert werden.
Onkologen haben ein neues Idol: Charles Robert Darwin (1809 bis 1882). Während sich viele Kollegen vor allem aus dem Biologieunterricht an sein Werk „Über die Entstehung der Arten“ erinnern, sind Darwins Ideen auch in der Krebsforschung moderner denn je. Die Evolutionstheorie trägt dazu bei, jene natürliche Selektion zu verstehen, die über Mutationen letztlich zu manifesten Tumoren führt. Super-GAU im Zellkern Alles beginnt mit Veränderungen im Erbgut einer einzelnen Zelle. Als Auslöser der Schäden kommen beispielsweisen UV-Licht, Radioaktivität oder Chemikalien infrage. Doch der Körper gibt sein Bestes: Ein erwachsener Organismus besteht aus rund 100 Billionen Zellen. Pro Sekunde gehen davon 50 Millionen zu Grunde – und werden größtenteils wieder neu gebildet. Unfälle stehen auf der Tagesordnung, trotzdem ist erstaunlich, wie selten Krebs entsteht. Das liegt an biologischen Vorgängen, die beschädigte Zellen reparieren – oder in den kontrollierten Zelltod, die Apoptose, treiben. Reißen alle Stricke und treten auch noch Mutationen in Bereichen auf, die zur Wachstumskontrolle dienen, beginnt die betroffene Zelle, sich ungebremst zu vermehren. Initiation, Promotion und Progression beschreibt zugrunde liegende Vorgänge aber nur ungenau, aus genetischer Sicht ist alles weitaus komplexer. Evolution im Zeitraffer Insbesondere verändert sich das Erbgut von Krebszellen, gemessen an Evolutionsvorgängen, mit Lichtgeschwindigkeit. „Bei Tumoren lassen sich 10.000 bis 100.000 genetische Veränderungen im Vergleich zu normalen Zellen nachweisen, von denen etwa zehn für das Wachstum und das Überleben entscheidend sind“, sagt Alan Ashworth, Chief Executive des Institute of Cancer Research in London. Eine Untersuchung des Genoms von fortgeschrittenem Nierenkrebs zeigt das Problem: Ashworths Kollege Charles Swanton wies jetzt 118 verschiedene Mutationen nach, von denen nur 40 in allen und 53 in den meisten Biopsien vorhanden waren. Sind entsprechende Bereiche für die Krebsentstehung relevant, sprechen Wissenschaftler von Onkogenen, die durch Mutation aus Proto-Onkogenen entstanden sind – bisher ließen sich rund 230 Vertreter nachweisen. Zurück in die Vergangenheit Durch „Chromosomen-Landkarten“ konnte Swanton die Zeit zurückdrehen und Ursprünge bestimmter Subtypen von Krebszellen identifizieren. „Wir fanden eine verzweigte Evolution, dem Baum des Lebens nicht unähnlich.“ Charles Darwin hatte 1837 mit dieser Abbildung seine Postulate, wie neue biologische Arten entstehen, untermauert. Onkologen nutzen sein Vorgehen heute, um Schlüsselmutationen zu identifizieren. Obwohl die meisten dieser Veränderungen im Erbgut zum Untergang der betreffenden Zellen führen, haben einzelne Vertreter wie bei Evolutionsvorgängen durchaus Erfolg. Ihnen gelingt es beispielsweise, mit Hilfe des Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) Blutgefäße zu erzeugen und die hungrige Kolonie teilungsaktiver Zellen zu versorgen. Mittlerweile haben Forscher VEGF als Zielstruktur entdeckt und Angiogenesehemmer entwickelt – ein eher seltener Glücksfall. Neue Daten – alte Therapien? Zwar gewährt die Genomforschung immer tiefere Einblicke in molekulare Massaker, diese Innovationen machen sich therapeutisch aber nur langsam bemerkbar. „Heute setzen wir trotz aller Bemühungen der Pharmakonzerne bei den meisten Krebsarten auf mittelalterlichen Methoden: Schneiden (Operationen), Brennen (Strahlentherapien) und Vergiften (unspezifische Chemotherapien)“, sagt Alan Ashworth. „Sobald wir darwinistische Prozesse, durch die sich Krebszellen im Körper entwickeln, besser verstehen, sollten wir in der Lage sein, auch fortgeschrittene Erkrankungen durch eine spezifische Kombinationen von Medikamenten zu kontrollieren.“ Das bedeutet, anstatt entartete Zellen abzutöten, werden diese wieder in den natürlichen Prozess der Wachstumskontrolle gebracht. Auch ist das Immunsystem zu stärken, um aus eigener Kraft gegen verbliebene Tumorreste selbst anzukämpfen. Gesundes Gewebe bleibt bei einer derart spezifischen Therapie außen vor. Gestoppt, aber nicht entfernt Noch ist es nicht soweit: Heute versuchen Onkologen, beispielsweise mit Antikörpern die Signaltransduktion zu unterbrechen. In diese Kategorie gehört etwa Bevacizumab, sein Ziel ist der Gefäßwachstumsfaktor VEGF. Cetuximab beziehungsweise Panitumumab richten sich gegen den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor EGFR, und Trastuzumab hat den humanen epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor HER2/neu als Ziel. Als weitere Strategie wurden diverse niedermolekulare Tyrosinkinase-Hemmstoffe entwickelt, um wichtige Andockstellen von Wachstumsfaktoren zu blockieren. Entsprechende Hemmstoffe richten sich etwa gegen Produkte des Leukämie-relevanten BCR-Gens (Dasatinib, Imatinib, Nilotinib) oder gegen den Epidermal Growth Factor Receptor EGFR (Erlotinib, Gefitinib, Lapatinib), haben aber oftmals weitere Zielstrukturen. Biochemisch führt diese Strategie lediglich zum Wachstumsstopp der Tumorzellen, ohne diese zu entfernen oder wieder in den normalen Zellzyklus zu treiben. Für Patienten bedeutet das meist, einige Monate an Lebenszeit zu gewinnen, geheilt werden sie aber nicht. Zum Abschuss frei gegeben Auch das Immunsystem wird in eigener Sache vor den Karren gespannt: Haben Tumorzellen auf ihrer Oberfläche hoch spezifische Antigene, lassen sich dagegen Antikörper herstellen und natürliche Killerzellen anlocken. In der Praxis eignen sich als Zielstrukturen CD-Antigene, hier binden Alemtuzumab, Ofatumumab oder Rituximab. EGF-Rezeptoren wiederum sind für Cetuximab sowie Panitumumab relevant, und zu HER2/neu passt Trastuzumab. Schließlich wird die Krebszelle zerstört, während gesundes Gewebe keinen Schaden nimmt. Parallel dazu stärken Kollegen generell das Immunsystem durch Gaben von Interferon alpha oder Interleukin-2. Synthetische Letalität setzt sich durch Ashworth gibt sich damit aber nicht zufrieden. Sein Konzept der „synthetischen Letalität“ soll helfen, Tumore mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und die Evolution rückgängig zu machen. Das geht so: Bei Mammakarzinomen etwa sind BRCA1 und BRCA2 von entscheidender Bedeutung, zwei Tumorsuppressorgene, deren Produkte in funktionsfähigem Zustand Schäden im Erbgut reparieren. Mutationen können zwar ein ungebremstes Wachstum auslösen. Dieser Selektionsvorteil aus zellulärer Sicht, um bei Darwin zu bleiben, wird Krebszellen aber gleichzeitig zum Verhängnis: Ashworth wies nach, dass diese äußerst sensibel auf eine Hemmung des Reparaturenzyms Poly(ADP)Ribose-Polymerase (PARP) reagieren, da alternative Mechanismen versagen. PARP-Hemmstoffe machen Zellen damit nicht nur empfindlicher für Strahlen oder Chemotherapeutika. Tumorzellen können vielmehr Schäden im Erbgut, etwa durch eine der häufigen Mutationen entstanden, nicht mehr selbst reparieren, und es kommt zur Apoptose: eine völlig neue Strategie, Krebs zu bekämpfen. Momentan laufen verschiedene Phase I- und Phase II-Studien, um die Eigenschaften von Olaparib, so der Name des innovativen Hemmstoffs, zu untersuchen. Keine Luftsprünge, aber gute Aussichten Steht der große Durchbruch also kurz bevor? Dazu sagt James Watson, jener Pionier, der zusammen mit Kollegen im Jahr 1953 die Doppelhelix-Struktur der DNA nachweisen konnte: „Wir haben immense Fortschritte zu verzeichnen, aber kein Krebsforscher macht vor Freude Luftsprünge, weil wir in der Vergangenheit einfach zu optimistisch waren.“ Dennoch ist er sich sicher: „Die Forschungsergebnisse der letzten Zeit lassen hoffen, den Kampf gegen die meisten unheilbaren Krebserkrankungen in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu gewinnen.“