Die aktuelle Masernepidemie sorgt für großes Aufsehen. Doch steigende Fallzahlen sind auch bei Hepatitis E und Pertussis zu beobachten. Experten schätzen, dass auch Tuberkulose mittelfristig ein großes Problem wird. Worauf sollten sich Ärzte in nächster Zeit gefasst machen?
„Viele Infektionskrankheiten wurden in den letzten Jahren zurückgedrängt und sind nicht mehr im Bewusstsein der Bevölkerung“, sagt Impfexpertin Dr. Sabine Reiter vom Robert Koch-Institut im Video-Interview. Die tatsächlichen Gefahren würden seither von der Bevölkerung unterschätzt: ein Problem – nicht nur bei Masern. Influenza und Windpocken gehören laut epidemiologischem Jahrbuch zu den häufigsten meldepflichtigen Erkrankungen, bei denen es STIKO-Impfempfehlungen gibt. Steigende Fallzahlen waren u.a. bei Hepatitis E und Keuchhusten zu beobachten. Und Tuberkulose wird mittelfristig zum Pulverfass. Ein Überblick aller Trends.
Pertussis, den Keuchhusten, kennen viele Menschen nur noch von Erzählungen ihrer Großeltern. Bordetella pertussis-Bakterien führten zu anfallsartigen Hustenbeschwerden. Doch das Blatt wendet sich. Zuletzt wurden bundesweit 13.809 Fälle dokumentiert (2016), das entspricht einer Zunahme um 52 % gegenüber dem Vorjahr. Erst im Frühjahr 2013 wurde die bundesweite Meldepflicht eingeführt, sodass Langzeittrends noch schwer abzuschätzen sind. Statt des alten Ganzkeim-Impfstoffs – er enthielt abgetötete Bakterien und war schlecht verträglich – setzen Kinderärzte heute zellfreie Vakzine mit aufbereiteten Toxinen als Antigene ein. Das mag erklären, warum nur 7,6 % der erwachsenen Bevölkerung gegen Keuchhusten geimpft sind. Schuleingangsuntersuchungen bei Kindern zeigten zwischen 2006 und 2016 eine erfreulich hohe Impfquote von mehr als 90 %.
Ähnlich problematisch bewerten RKI-Experten die Windpocken (Varizellen). Mit 750.000 Fällen pro Jahr zählten Infektionen mit dem Varizella-Zoster-Virus jahrzehntelang zur häufigsten Kinderkrankheit. Seit die STIKO in 2004 eine entsprechende Impfempfehlungen ausgesprochen hat, ist die Zahl zwar gesunken. Bei den gemeldeten Fällen verzeichnen Experten jedoch neuerdings einen Anstieg von 22.752 Fällen (2015) auf 25.027 Fälle (2016). Windpocken sind eine typische Kinderkrannkheit, die gehäuft zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr auftritt. Kleine Patienten leiden neben den typischen Hautmanifestationen an Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen. Pneumonien durch bakterielle Sekundärinfektionen oder ZNS-Manifestationen treten bei weniger als sechs Prozent der Patienten auf, meist sind Erwachsene betroffen. Schwere Verläufe sind von Schwangeren bekannt.
Auch die echte Grippe bleibt ein Sorgenkind von Epidemiologen. Sie wird durch Influenzaviren ausgelöst und führt zu schweren Atemwegsinfektionen. Die STIKO rät Personen ab 60 Jahren, Schwangeren im zweiten bis dritten Trimenon oder chronisch Erkrankten unabhängig vom Alter zum saisonalen Schutz. Aufgrund der demographischen Trends steigt die Zahl von gefährdeten Senioren stetig an. Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen zufolge ließen sich 2008/09 und 2009/10 noch die Hälfte aller Personen in dieser Altersgruppe impfen. In der Saison 2016/17 waren es noch knapp 35 %. Die Impfquoten reichen von 19,2 % in Baden-Württemberg bis zu 55,2 % in Sachsen-Anhalt. Zielvorgaben der EU mit einer Quote von 75 % liegen in weiter Ferne. Auch Angestellte im Gesundheitsbereich geben keine guten Vorbilder ab. Nur 61 % aller Ärzte und 33 % aller Pflegekräfte sind gegen die echte Grippe geschützt.
In der Negativliste gefährlicher Infektionen darf auch Tuberkulose nicht fehlen. Bundesweit bleibt die Zahl gemeldeter Infektionen mit 5.949 (2016) und 5.486 (2017) konstant auf hohem Niveau. Im Dezember 2017 (63 positive Tests) und Juni 2018 (80 positive Tests) fand das Gesundheitsamt Dresden Tuberkulosebakterien im Blut von etlichen Bürgern. Damit ist klar: Die Erkrankung aus Ferdinand Sauerbruchs Zeiten ist heute aktueller denn je. Dem RKI zufolge lag der Anteil erfolgreicher Behandlungen bei 77 % und blieb damit deutlich unter dem Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 85 %. Wie lässt sich das erklären? „Ärzte ohne Grenzen“ warnen vor steigenden Fallzahlen in Ländern der ehemaligen Sowjetunion – und zwar rund 20 Prozent pro Jahr. Und ca. 46.000 Patienten mit resistenten TBC-Formen erhalten weder korrekte Diagnosen noch leitliniengerechte Therapien. In Zeiten der uneingeschränkten Mobilität verbreiten sich resistente Erreger weltweit. Mitte August legte die WHO Eckpunkte einer neuen Strategie vor: Experten wollen einerseits versuchen, Wirkstoffe besser verfügbar zu machen. Andererseits verdrängen Pharmaka in oraler Galenik die injizierbaren Präparate. Hier spielt Bedaquilin eine zentrale Rolle, ist aber nicht für alle Menschen weltweit auch erschwinglich. Nach jahrzehntelanger Funkstille gibt es aus der Grundlagenforschung neue Impulse. Aktuellstes Beispiel ist BTZ043, ein experimenteller Wirkstoff gegen multiresistente Tuberkulose. Laut Pressemitteilung hemmt er ein Enzym, das zum Aufbau bakterieller Zellwände benötigt wird. Derzeit laufen klinische Studien. Auch ein experimenteller Schnelltest, der Ergebnisse innerhalb von zwei Stunden liefert, könnte wochenlange Anzucht von Tuberkulosebakterien auf Kulturmedien in Zukunft ersetzen. Bei Impfungen haben Wissenschaftler die neue Bedrohung auch recht spät erkannt. Seit 1930 gibt es einen abgeschwächten Mykobakterien-Stamm Bacillus Calmette-Guérin (BCG). Aufgrund möglicher Impfreaktionen und aufgrund der schlechten Schutzwirkung setzen Ärzte aber kaum noch BCG-Vakzine ein. Sie setzen große Hoffnungen in neue Impfstoffe wie VPM1002, einen molekularbiologisch veränderten BCG-Abkömmling. Derzeit laufen klinische Phase-II/III-Studien. Weitere Kandidaten in der Pipeline: AERAS-402/Crucell Ad35 oder GSK M72. Reicht das aus? Wohl kaum. Im „Epidemiologischen Bulletin“ kritisiert das RKI, es gebe kein flächendeckendes Tuberkulose-Screening. Anhand der verordneten Wirkstoffe sehen Forscher Defizite bei der Behandlung resistenter, komplizierter oder schwerer Fälle. „Wichtig ist es außerdem, dass die Erfahrungen und das Wissen im Umgang mit dieser Erkrankung in Fachkreisen erhalten bleiben und durch eine entsprechende Ausbildung in Studium und Beruf gefördert werden“, schreibt das RKI.
Neben alten Bekannten wie Tuberkulose oder Influenza erscheinen neue Pathogene recht unbemerkt auf der Bildfläche. Dazu gehört Hepatitis E. Diese Form der Virushepatitis wird primär durch tierische Lebensmittel auf Menschen übertragen, etwa durch rohes Schweinefleisch. Wurden dem RKI im Jahr 2015 noch 1.264 Fälle gemeldet, stieg die Zahl auf 1.983 im Jahr 2016 und weiter auf 2.902 im Jahr 2017. Klinisch gleicht der Verlauf einer Hepatitis A mit Gelbsucht, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Fieber. Die Mortalität liegt allgemein unter 4,0 %, steigt aber bei Schwangeren auf rund 27 %. Mit der Prophylaxe ist es derzeit schwierig. Ein Impfstoff wurde in China zugelassen. Langzeitergebnisse sprechen für dessen hohe Sicherheit und Wirksamkeit. Wann der Hersteller seine Vakzine in Europa oder in den USA zulassen wird, weiß niemand. Der Druck wird angesichts steigender Patientenzahlen aber wachsen.
Die Trends zeigen, wie schwierig es ist, Infektionserkrankungen zu eliminieren. Impfmüdigkeit als Totschlagargument ist zu pauschal, da sich Impfquoten bei Schuleingangsuntersuchungen seit Jahren auf einem hohen Niveau bewegen: © RKI Dem stehen regionale Schwankungen gegenüber. Sie sind bei den verschiedenen Infektionserkrankungen nicht deckungsgleich. Kampagnen für mehr Impfungen müssen nicht nur bundesweit greifen, sondern stärker regional verankert werden. Regionale Impfquoten bei Masern-Impfungen in Deutschland © VacMap Und nicht zuletzt hat die Industrie auch eine Mitschuld am Debakel. Über Jahrzehnte hinweg interessierte sich niemand großartig für neue Vakzine. Das rächt sich nun, insbesondere im Bezug auf Tuberkulose oder Hepatitis E.