Empathischer, multiprofessioneller und ökonomischer sollen sie werden, die Ärzte in Deutschland. Das zeigte eine aktuelle Studie des IAT (Institut Arbeit und Technik). Mit einigen wichtigen Akzentverschiebungen in der Ausbildung soll das gelingen.
„Chronisch kranke Patienten wissen heute oftmals mehr über ihre Erkrankung als der konsultierte Arzt“, schreiben die Herausgeber Prof. Heinz Lohmann und Prof. Dr. Jörg F. Debatin in der Einführung zu den Studienergebnissen “Neue Ärzte braucht das Land? Innovationsbaustelle Ärzteausbildung Deutschland“. Die Kompetenz der Patienten nehme durch die schier unerschöpflichen Informationsquellen des Internets stetig zu. Gut informierte Patienten hätten steigende Qualitätserwartungen an ihren behandelnden Arzt. Gleichzeitig blieben die finanziellen Mittel, mit denen Ärzte ihre Patienten versorgen können, knapp und erzeugten oft einen beträchtlichen Kostendruck. Daran werde sich wahrscheinlich auch in Zukunft nicht viel ändern, so Lohmann und Debatin. „Patienten als Konsumenten erwarten künftig ganzheitliche Gesundheitsangebote, die auf einem strukturierten Prozess beruhen“, skizzieren Lohmann und Debatin die Veränderungen in der deutschen Gesundheitslandschaft. Ärzte sollen künftig ihren Beitrag zu mehr Gesundheit und Lebensqualität, zu mehr Wirtschaftlichkeit, weniger Verschwendung im Gesundheitswesen sowie für nachhaltiges Wachstum in den Gesundheitsbranchen leisten. Die derzeitige Ärzteausbildung werde den künftigen Anforderungen nicht in allen Punkten gerecht, so der Konsens der Studie. Was muss anders werden?
Naturwissenschaftliche Grundlagen als Basis
Das Medizinstudium basiert auf einer naturwissenschaftlich fundierten Ausbildung, die die angehenden Mediziner zum eigenverantwortlichen praktischen Handeln befähigt. Daran soll sich auch grundlegend nichts ändern. Doch die Zeit der Elfenbeintürme gehöre endgültig der Vergangenheit an, schreiben Lohmann und Debatin. Bisher sei das deutsche Gesundheitssystem von tiefen Gräben zwischen den einzelnen Teilbereichen durchzogen. Die Ärzteausbildung müsse dringend den modernen Erfordernissen angepasst werden. Dabei sollen aus oft hochkompetenten Einzelkämpfern “patientenorientierte, orchestrierungsfähige Dienstleister, teamfähige Kollegen und empathische Führungskräfte werden“. Dazu müsse die Medizinerausbildung aber nicht gänzlich neu erfunden werden. Mit einigen Akzentverschiebungen soll das gelingen.
Medizinstudium nach wie vor beliebt
Wie sieht die Medizinerausbildung derzeit in Deutschland aus? Das Interesse von Abiturienten an einem Medizinstudium ist nach wie vor groß. Laut Angaben von „Hochschulstart“ (ehemals Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS)) bewarben sich für das Wintersemester 2011/12 auf die bundesweit insgesamt 8.753 Studienplätze 44.053 Interessenten. Das waren rund fünf Bewerber pro Studienplatz. Zum Vergleich: Im Wintersemester 2006/07 waren es nur vier Bewerber pro Medizinstudienplatz. 2011 bildeten in Deutschland 36 medizinische Fakultäten etwa 120.000 Studierende der Fächergruppe „Humanmedizin/Gesundheitswissenschaften“ aus. Etwa zwei Drittel derer, die ihr Medizinstudium beginnen, sind später auch als Ärzte tätig. Das übrige Drittel sind aber keineswegs nur Studienabbrecher, sondern auch Mediziner, die in andere Berufe abwandern.
Modellstudiengänge auf gutem Weg
Mittlerweile gibt es in Deutschland zahlreiche Universitäten, die Modell- und Reformstudiengänge für eine neue Ärzteausbildung auf den Weg gebracht haben. Inhalte wie Patientenorientierung, Kommunikation, Evidenzbasierung, Gesundheitsökonomie, Gesundheitssystemwissen oder Ethik finden nicht nur, aber vor allem auch in diesen Studiengängen besondere Beachtung. In weiten Teilen der medizinischen Ausbildung zeigten die Reformen in die richtige Richtung, so die Studienautoren. Sie seien allerdings noch nicht hinreichend breit und integriert genug. „Der Durchbruch zu einer flächendeckenden Neuorientierung steht noch aus“, kommentierte Dr. Josef Hilbert, Direktor des Institut Arbeit und Technik, die Studie. Insbesondere bei der Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsprofessionen, also der Multi- und Interprofessionalität, sehen die Studienautoren noch deutlichen Nachbesserungsbedarf. Dazu eigneten sich beispielsweise Ausbildungsmodule, in denen Mediziner gemeinsam mit Angehörigen anderer Gesundheitsberufe (z.B. aus dem Bereich der Pflege oder Physiotherapie) problemlösungsorientiert zusammen lernen.
Auch Praxismanagement will gelernt sein
Auch bei der Vorbereitung der angehenden Ärzte auf ihre eventuelle praktische Niederlassung müssen laut Hilbert und Kollegen noch Ausbildungslücken gefüllt werden. „Ärzte müssen mehr über die Führung und Organisation einer niedergelassenen Praxis wissen. Bereiche wie Praxismanagement, Altersvorsorgen und betriebswirtschaftliche Aspekte bei der Führung einer Arztpraxis finden in der Ausbildung von Ärzten bisher kaum Beachtung“, so Dr. Hilbert. Hier könnten erfahrene und praktizierende Ärzte eine Mentorfunktion einnehmen und die Studenten in praktischen Ausbildungsphasen professionell anleiten.
Systemübergreifendes Denken gefragt
Auch an die Beteiligung von Ärzten an der Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen könnten die Studierenden nach Meinung der Studienautoren noch besser herangeführt werden. „Wer bei den Systemlösungen künftig die Federführung übernehmen wird, wird momentan unter Apothekern und Vertretern von Krankenhäusern und der pharmazeutischen Industrie heiß diskutiert. Hier wären Ärztinnen und Ärzte hilfreich, die von solchen Entwicklungsfragen etwas verstehen und sich in das Design von Versorgungsstrukturen einmischen“, so Dr. Hilbert. Allen Medizinstudenten soll eine derartig spezialisierte Ausbildung allerdings nicht zuteil werden. „Die Grundlagen zur Versorgungsstruktur in Deutschland müssen ein Thema bei der Ärzteausbildung werden, was aber nicht heißt, dass sich alle vertieft damit auseinander setzen müssen.“ Allein das Wissen um und die Möglichkeit zu einer Spezialisierung innerhalb des Medizinstudiums sei völlig ausreichend, so Hilbert weiter.
Weniger ist mehr
Die Basis der ärztlichen Ausbildung sollen auch in Zukunft die „medizinischen Kenntnisse und Fertigkeiten bilden, die auf einem soliden naturwissenschaftlichen Fundament stehen“, resümiert Michaela Evans, Wissenschaftlerin am IAT und Coautorin der Studie. Medizinstudenten benötigten dafür jedoch kein unendlich ausdehnbares, bibliothekarisches Gedächtnis. Vielmehr sollen die fachlichen Studieninhalte in Zukunft vermehrt “problem- und kompetenzorientiert“ vermittelt werden. Das schärfe den Blick für praktische Anwendungserfordernisse und fördere ein hohes Maß an Patientenorientierung, Patientenkommunikation und –begleitung der Studierenden.
Effektivere Versorgung für alle
Deutschland brauche in den nächsten Jahren nicht nur mehr Ärzte, um dem in einigen Bereichen drohenden Ärztemangel zu begegnen, sondern auch eine verbesserte Organisation der Versorgungsstrukturen, schreiben die Studienautoren. Dies sei notwendig, um die Wirtschaftlichkeit in der Gesundheitsversorgung bei mehr Gesundheit und Lebensqualität für alle zu erhöhen. Das sehen nicht alle so. „Ärztinnen und Ärzte stehen entsprechenden Aktivitäten zu einer „strukturierten Medizin“ zum Teil mit großen Vorbehalten gegenüber“, schildern Hilbert und Kollegen ihre Erfahrungen. Zahlreiche Mediziner befürchteten, dass „notwendige medizinische Hilfen zu stark unter ökonomischen Gesichtspunkten bewertet und in der Folge sogar unterlassen würden“.
Die Studienautoren hoffen in Zukunft auf weniger Skepsis und mehr Mitgestaltungsbereitschaft unter den Ärzten und Ärztinnen. „Die Automobilbranche etwa musste schon vor rund zwei Jahrzehnten schmerzhaft zu der Erkenntnis gelangen, dass nur der, der herausragende Autos produziert, sie auch verkaufen kann“, so Lohmann. Ähnlich werde es auch der Gesundheitswirtschaft in Zukunft ergehen. Der Wettbewerb der Gesundheitsanbieter werde letztlich über die Qualität der Medizin entscheiden. „Und dazu brauchen wir die Mithilfe von Ärzten und Ärztinnen“, weiß Dr. Hilbert.