Experimente, deren Ergebnisse sich nicht wiederholen lassen oder Phantasiedaten: Wenn eine Veröffentlichung aus diesen Gründen zurückgezogen wird, ist das peinlich für Zeitschrift und Forscher. Noch schlimmer ist es aber, wenn Kollegen davon nichts erfahren.
Krebsforscher Robert Mandic von HNO-Uniklinik in Marburg muss damals wohl ziemlich sauer gewesen sein. Er hatte gerade eine Publikation zum Thema der seltenen Kopf- und Halstumoren durchgebracht, als er erfuhr, dass er die ganze Zeit mit einer Zervix-Karzinom-Zelllinie gearbeitet hatte. Er informierte die Fachzeitschrift, die den Artikel daraufhin zurückzog. Schätzungen zufolge ist etwa jede vierte Tumorzelllinie in den großen Zellbanken der USA, Deutschland oder England nicht das, was sie vorgibt zu sein. Und das schlimmste daran ist: kaum jemand erfährt davon, wie viel Forschungsvorhaben deswegen schon gescheitert sind, wie viele Ergebnisse in der Fachliteratur deswegen höchst unzuverlässig sind.
Zurückgezogene Beiträge: Tendenz geht steil nach oben
Jede Woche erscheinen in der Datenbank „Web of Science“ rund 27.000 neue Fachartikel. 200 davon „verändern“ sich im Laufe der Jahre, weil Ergebnisse oder Autorenschaften korrigiert werden. Eine Handvoll davon erklären die Herausgeber der Fachzeitschrift für ungültig. Trotzdem finden sich auch Jahre danach noch unzählige neue Fachbeiträge, die jene fragwürdigen Veröffentlichungen zitieren. Das heißt, deren Ergebnisse basieren auf Informationen, die Autoren oder Gutachter für nichtig erklärt haben.
Das Ausmaß, in dem Berichte über Studien oder Experimente plötzlich nicht mehr gelten, nimmt zu: Waren es in den neunziger Jahren noch um die 30, ist die Zahl inzwischen auf rund 400 jährlich gestiegen. Medienberater Grant Steen aus North Carolina kommt für den Zeitraum von 2000 bis 2010 auf 180 zurückgezogene Arbeiten mit Forschungen am Menschen. Im Fachbereich Medizin zählte die Amerikanerin Barbara Redman rund 330 Publikationen in den Jahren 1995 bis 2004. Auch in diesem Ausschnitt steigt deren Zahl stetig an. Bei rund 5 Millionen Beiträgen im Untersuchungszeitraum ist das nicht viel, dennoch sind die Folgen oft massiv.
Lancet: Späte Streichung mit Folgen
Denn Fachzeitschriften mit hohem „Impact Factor“, die großes Renommee haben, sind häufiger betroffen als kleine weniger bedeutende Medien. Rund zwei Jahre dauert es im Durchschnitt von der Veröffentlichung bis zur „Retracted“- Notiz. Der Engländer Andrew Wakefield publizierte im Jahr 1998 im „Lancet“ über einen Zusammenhang zwischen MMR-Vakzinen und dem Auftreten von Autismus. Obwohl die Ergebnisse schon viel früher widerlegt wurden, zog die Zeitschrift den Artikel erst 2010 zurück. Inzwischen waren die Impfraten in Europa gefallen, mehrere Masern-Epidemien aufgetreten und der beschriebene Zusammenhang dient immer noch als Basis für die Argumentation vieler Impf-Skeptiker. Nach einer Untersuchung von Jeffrey Furman aus Boston werden später zurückgezogene Mitteilungen im ersten Jahr sogar öfter zitiert als inhaltlich vergleichbare Veröffentlichungen. Steen hat die Zitate nach dem Rückzug gezählt: Rund elf mal erwähnen nachfolgende Veröffentlichungen die Ergebnisse noch, ohne auf die mangelnde Verlässlichkeit hinzuweisen.
Wird heutzutage mehr gemogelt, betrogen oder ganz einfach geschlampt? „Ich glaube nicht, dass es einen plötzlichen Boom an betrügerischen oder fehlerhaften Arbeiten gibt“, sagt John Ioannidis, der in Stanford zum Thema Gesundheitspolitik forscht. Mit dem Internet erreichen die Arbeiten einen weitaus größeren Leserkreis, die pdf-Dateien lassen sich aber auch mit entsprechender Software leichter auf Plagiate oder Manipulationen überprüfen. Bald, so hoffen Experten, sollten diese Instrumente aber auch in der Hand von Herausgebern verhindern, dass entsprechende Publikationen das Licht der Öffentlichkeit erblickt.
Detektivarbeit an zweifelhaften Publikationen: Retraction Watch
Einstweilen erfährt der Leser, wenn er Glück hat, über entsprechende Wasserzeichen auf der pdf-Datei, auf der Website der entsprechenden Zeitschrift oder über eine Notiz, verbunden mit dem Artikel, über das Schicksal der Publikation. Oder - bei einzelnen Zeitschriften - auch überhaupt nicht. Ähnlich sieht es auch bei den Datenbanken für die Literatursuche aus. Stichproben bescheinigten Medline eine außerordentlich gründliche Arbeit, während EMBASE in der gleichen Untersuchung nur eine Retraktion von 17 kennzeichnete.
Wer sich für Gründe und Hintergründe interessiert, weshalb Autor, Institution oder Fachzeitschrift ein Paper zurückziehen, findet bei „Retraction Watch“ viel Material. Ivan Oransky von Reuters Health und Adam Marcus von der Fachzeitschrift „Anaesthesiology News“ gründeten den Blog im August 2010. Rund 150 000 Page Views pro Monat und Hinweise auf mehrere hundert zurückgezogene Veröffentlichungen in den letzten eineinhalb Jahren zeugen von der Bedeutung dieses Überwachungs-Werkzeugs. Auszüge in deutscher Sprache finden sich auch beim „Laborjournal“.
„Das geht sie nichts an!“
Wer sich aber mit Rückfragen zu zurückgezogenen Publikationen an die Herausgeber der Zeitschriften wendet, erhält oft ganz unterschiedliche Antworten. Auf die Anfrage von Retraction Watch antwortete etwa der Herausgeber von „Annals of Thoracic Surgery“, Henry Edmunds: „That’s none of your damn business”. Auch „Nature“ verweigerte Edmunds eine Antwort. Öfter erhält eine Nachfrage ganz vage Antworten, wie „Auf Bitten der Autoren wurde die Arbeit zurückgezogen“. Noch immer haftet einem so gebrandmarkten Beitrag der Anschein eines Verlusts an Reputation, an Verlässlichkeit und Vertrauen an.
Böswillige Fälschungen, fabrizierte Daten oder ein Zurechtbiegen der Ergebnisse nach Wunsch (des Sponsors) haben auch anteilsmäßig zugenommen und sind inzwischen in ihrer Häufigkeit den Irrtümern bei Experiment und Ergebnisberechnung voraus. Daniele Fanelli von der Universität Edinburgh nahm viele Untersuchungen zum Thema „böswillige oder unabsichtliche Datenmanipulation“ unter die Lupe und fand in seiner Metastudie heraus, dass rund zwei Prozent aller Wissenschaftler schon einmal zugegeben haben, Daten fabriziert oder gefälscht zu haben - mit hoher Dunkelziffer. Auf ähnliche Häufigkeiten kommt auch die amerikanische Medizin-Aufsicht FDA.
Crossmark: Gültigkeits-Check per Klick
Wie lässt sich aber nun verhindern, dass Daten auch nach ihrer „Beerdigung“ weiterleben? Eine neu entwickelte Möglichkeit zum individuellen Check bietet „CrossMark“, entwickelt vom gleichen Verbund von Herausgebern, der sich auch die DOI-Kennzeichnungen der Fachliteratur einfallen ließ. Das Lesezeichen auf der auf der pdf-Datei der Publikation zeigt per Klick an, ob sich die entsprechende Arbeit im Nachhinein noch einmal verändert und Korrekturen erfahren hat. Inzwischen haben Verlage diese Möglichkeit an rund 20.000 Dokumenten getestet. Seit einigen Wochen steht „CrossMark“ nun allen Fachjournalen offen.
Viel wichtiger sind aber wohl noch Gespräche zwischen Institutionen, Herausgebern und der Dialog mit der Forschungsgemeinde. Nur wenn Forscher und Fachzeitschrift erkennen, dass zu Forschungsergebnissen auch Irrtümer gehören - und Korrekturen und schlimmstenfalls ein zurückgezogenes Paper - dann dürften diese Daten auch in kleinen Fachzeitschriften nicht jahrelang überleben. Noch ärgerlicher als mit falschen Informationen zu arbeiten ist wohl zu erfahren, dass andere schon längst davon wussten.