Forscher konnten nun zeigen, dass Mäuse mit fehlerhaftem SHANK2 Verhaltensauffälligkeiten aufweisen, die autistischen Störungen beim Menschen ähnlich sind.
Bei Menschen, die an Autismus leiden, ist die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung des Gehirns gestört. Sie verfügen häufig über eine verminderte, selten aber auch über eine überdurchschnittliche Intelligenz und Spezialbegabungen wie zum Beispiel ein fotografisches Gedächtnis. Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch Sprachdefizite, eingeschränkte soziale Interaktion und stereotype Verhaltensweisen. Auch wenn einige Genvarianten, die mit Autismus assoziiert sind, bereits identifiziert werden konnten, beginnen Wissenschaftler erst langsam zu verstehen, welche Mechanismen die Krankheit genau auslösen.
So scheinen Mutationen im SHANK2-Gen die Signalweiterleitung zwischen Nervenzellen zu beeinträchtigen. Das Gen trägt die Bauanleitung für ein Gerüstprotein. Dieses verbindet in Nervenzellen verschiedene Neurorezeptoren miteinander, die Botenstoffe von anderen Nervenzellen empfangen können.
Bereits im Jahr 2010 hatten Forscher um Professorin Gudrun Rappold und Simone Berkel im Erbgut von Patienten mit einer autistischen Störung mehrere SHANK2-Mutationen entdeckt. In ihrer aktuellen Arbeit konnten die Wissenschaftler der Abteilung Molekulare Humangenetik des Instituts für Humangenetik am Heidelberger Universitätsklinikum nun zeigen, dass Mutationen in diesem Gen zu morphologischen Veränderungen in den Nervenzellen führen und bei Mäusen Symptome auslösen können, wie sie in ähnlicher Weise bei autistischen Störungen auftreten. Die Ergebnisse ihrer Experimente veröffentlichten Rappold und Berkel in der Fachzeitschrift Human Molecular Genetics.
Zellen bilden weniger Kontaktstellen aus
Wie sich Nervenzellen ohne funktionsfähiges SHANK2 verhalten, untersuchten die beiden Wissenschaftlerinnen an isolierten Nervenzellen aus dem Hippocampus von Ratten, in denen sie die Menge an zelleigenem SHANK2 verringerten und in die sie zusätzlich den genetischen Bauplan für jeweils eine von drei SHANK2-Varianten einbrachten. Die so veränderten Zellen bildeten in großer Menge das defekte Gerüstprotein und büßten dadurch einen Teil ihrer Fähigkeit ein, sich zu vernetzen. „Nervenzellen, denen das funktionsfähige SHANK2 fehlt, bilden weniger Kontaktstellen für andere Nervenzellen aus und sind deshalb vermutlich weniger empfänglich für die Botenstoffe ihrer Nachbarn,“ sagt Berkel. „Signale zwischen einzelnen Neuronen können deshalb deutlich schlechter übertragen werden.“
Die untersuchten Genvarianten verursachen in unterschiedlichem Ausmaß morphologische und funktionelle Veränderungen an den Nervenzellen. Das passt zu der Beobachtung, dass es auch Träger von SHANK2-Mutationen gibt, die selbst nicht erkranken, aber das veränderte Gen an ihre Kinder weitergeben. Erst bei diesen treten die charakteristischen Autismus-Symptome auf. „Diese Genvarianten sind ein Risikofaktor“, erklärt Berkel. „Zum Ausbruch der Krankheit kommt es in solchen Fällen aber erst, wenn noch weitere Risikofaktoren hinzukommen.“
Mäuse mit defektem SHANK2 zeigen weniger Interesse
Um herauszufinden, ob ein mutiertes SHANK2-Gen auch Verhaltensänderungen bei Mäusen auslösen kann, schleusten Forscher um Privatdozent Rolf Sprengel vom Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung mit Hilfe von rekombinanten Viren den Bauplan des Gerüstproteins in Gehirnzellen von jungen Tieren wenige Wochen nach deren Geburt ein. Einige Monate später zeigten die Tiere in speziellen Tests ein geringeres Lernvermögen als unbehandelte Mäuse und weniger Interesse an ihrer Umwelt – vergleichbar mit autistischen Störungen bei Menschen. „Ein korrekter Aufbau der Nervenzellen scheint nötig zu sein für eine normale Entwicklung von sozialer Kompetenz und kognitiven Fähigkeiten“, sagt Berkel.
In einem weiteren Experiment isolierten Berkel und ihre Kollegen Nervenzellen aus dem Hippocampus von lerndefizienten Mäusen und maßen mit Elektroden, wie gut diese Nervenzellen Signale weiterleiten konnten. Dabei stellten die Forscher fest, dass in Nervenzellen mit einem veränderten SHANK2-Gen die Signalübertragung weniger gut funktionierte als in normalen Nervenzellen. „Wahrscheinlich können die Empfängerzellen weniger Botenstoffe aufnehmen, da aufgrund des fehlerhaften Gerüstproteins nur eine verringerte Anzahl von Neurorezeptoren in ihren Nervenenden vorhanden ist“, sagt Berkel.
„Allerdings kann in mutierten Nervenzellen die Signalübertragung genauso gut gehemmt werden wie in normalen Nervenzellen.“ Hier sieht die Wissenschaftlerin einen Ansatzpunkt für zukünftige medikamentöse Therapien von Autismus-Patienten mit einer SHANK2-Mutation: „Man könnte das Ungleichgewicht in der Signalweiterleitung wieder in Balance bringen, indem man mit Hilfe spezieller Substanzen entweder die Anregung von Signalen verstärkt oder ihre Hemmung vermindert.“
Strukturproteine ermöglichen korrekten Einsatz der Neurorezeptoren
Andere Experten beurteilen die Ergebnisse von Berkel und ihren Kollegen positiv: „Es ist eine wichtige Arbeit, die zeigt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der SHANK2-Mutation und den Funktionsausfällen in den Nervenzellen besteht“, sagt Professor Hilmar Bading, Direktor des interdisziplinären Zentrums für Neurowissenschaften der Universität Heidelberg. „In den vergangenen zehn Jahren ist immer deutlicher geworden, dass die verschiedenen Neurorezeptoren nicht starr in der Membran von Nervenzellen stecken, sondern je nach Bedarf in die Membran ein- und ausgebaut werden. Dafür braucht es ein Set aus sehr vielen unterschiedlichen Proteinen, die diese komplizierte Arbeit verrichten.“ Deswegen, so der Neurobiologe, sei es wenig verwunderlich, dass der Austausch von Informationen zwischen den Nervenzellen beeinträchtigt werden könne, sobald eines dieser Strukturproteine defekt sei oder gar fehle.