Zeit für eine Zwischenbilanz: Mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) führten Politiker die frühe Nutzenbewertung von neuen Medikamenten ein. Das Verfahren hat noch etliche Schwachstellen, was Retigabin und Linagliptin schmerzlich zu spüren bekamen. Auch ist nach wie vor offen, inwieweit tatsächlich gewährte Rabatte vertraulich zu behandeln sind.
Um die Preisgestaltung neuer, mehr oder weniger innovativer Arzneimittel besser zu steuern, entwickelte Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) die frühe Nutzenbewertung als Steuerungsinstrument: Pharmazeutische Hersteller müssen gegenüber Vertretern des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) einen Mehrwert im Vergleich zu Standardtherapien plausibel machen. Sie können meist nur Zulassungsstudien vorlegen, weitere Daten existieren in der Regel nicht. Dann entscheidet der G-BA auf Basis unverbindlicher Empfehlungen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Was auf dem Papier plausibel klingt, hat noch etliche Schwachstellen. Zwei Fälle:
Retigabin: kein Zusatznutzen?
Anfang Mai veröffentlichte der G-BA sein Gutachten, Retigabin (Trobalt®) habe bei schwer behandelbarer, fokaler Epilepsie keinen Benefit. Als Standard zog man Lamotrigin und Topiramat heran, stellte aber fest, dass teilweise erforderliche Nachweise fehlten. GlaxoSmithKline hingegen verglich den Mehrwert mit Lacosamid. Vom Hersteller heißt es dazu, die ablehnende Bewertung lasse „selbst die von GSK Anfang März nachgereichten Studiendaten für die vom G-BA gewählten Vergleichstherapien Lamotrigin und Topiramat aus formalen Gründen unberücksichtigt“. Professor Dr. Torsten Strohmeyer, Leiter Forschung und Medizin bei GSK Deutschland, kritisiert zudem: „Wir halten es für nicht akzeptabel, dass der G-BA in seiner Entscheidung bei den beiden sachlich nicht haltbaren generischen Vergleichstherapien bleibt.“ Mittlerweile hat GSK das Handtuch geworfen: Der Hersteller stieg vor einer neuerlichen Pokerrunde am 31. Mai aus.
Linagliptin: Abschied vom deutschen Markt
Nicht anders erging es dem Antidiabetikum Linagliptin (Trajenta®): In ihren Dossiers stellten Boehringer Ingelheim und Eli Lilly den Arzneistoff anderen DPP4-Inhibitoren gegenüber – verfahrenstechnisch durchaus eine Möglichkeit. Allerdings entschied der G-BA aus formalen Gründen, dass kein Mehrwert gegenüber Sulfonylharnstoffen und Humaninsulin zu finden ist. „Da die erforderlichen Nachweise nicht vollständig vorgelegt worden sind, gilt der Zusatznutzen im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie als nicht belegt“, heißt es in der Begründung. Zwar hätten die Hersteller ein Jahr Zeit, neue Dossiers zu erstellen, doch es kam anders: Boehringer und Lilly kehrten dem deutschen Markt ihren Rücken. Wie die beiden Firmen beim Diabetes-Kongress 2012 in Stuttgart erläuterten, sei für Linagliptin ein Erstattungspreis auf Niveau von Sulfonylharnstoffen nicht akzeptabel. Hier stehen 1,20 Euro Tagestherapiekosten nach Abzug des Zwangsrabatts einem niedrigen zweistelligen Cent-Beträgen gegenüber – das Ende weiterer Preisverhandlungen mit Vertretern des GKV-Spitzenverbands. Jetzt fordern Boehringer und Lilly, Leitlinien von Fachgesellschaften als Referenz heranzuziehen und Linagliptin mit anderen DPP4-Inhibitoren wie Sitagliptin zu vergleichen. Rückendeckung erhalten sie von der Deutschen Diabetes Gesellschaft.
Nachjustieren erforderlich
Neben strittigen Vergleichstherapien brachte die Praxis noch weitere Schwachstellen zu Tage: Momentan berücksichtigen Studien kaum geschlechtsspezifische Unterschiede. Auch wird man sich zunehmend pharmakogenomischen Fragen stellen müssen: Bringen Arzneistoffe vielleicht einen Nutzen für Patientenkollektive mit bestimmtem Genotyp? Bei Medikamenten gegen seltene Erkrankungen hat der G-BA Fehler revidiert: Mittlerweile akzeptiert die Institution, dass nach erfolgreicher Zulassung der Nutzen als belegt gilt, wie vom Sozialgesetzbuch gefordert. In seinem Gutachten zu Pirfenidon (Esbriet®) hatte das IQWiG keinen Zusatznutzen gesehen – eine Einschätzung, der G-BA-Vertreter nun doch nicht gefolgt sind.
Transparenz oder Verschwiegenheit
Bei positivem Votum des G-BA hinsichtlich eines möglichen Zusatznutzens geht es für Pharmafirmen in die heiße Phase: Zusammen mit dem GKV-Spitzenverband verhandeln sie über mögliche Rabatte auf den herstellerseitig festgelegten Listenpreis. Ob tatsächlich gewährte Erstattungsbeträge vertraulich zu behandeln sind, ist aber zum Politikum geworden. Während Oppositionsvertreter eine größtmögliche Transparenz fordern, argumentiert der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa), dies sei in anderen Bereichen – Stichwort Rabattverträge – auch nicht üblich. Zum Hintergrund: Niedrige Referenzpreise in Deutschland könnten das Geschäft weltweit verderben. Dem gegenüber stehen Einwände vieler Gesundheitsökonomen, ohne Kennzahlen wäre eine objektive Bewertung nach Markteinführung schlichtweg unmöglich. Genau dieser Punkt wird auch bei Rabattverträgen immer wieder kritisiert.
Lobbyarbeit von allen Seiten
Zur Debatte erklärt vfa-Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer: „Die meisten Länder arbeiten mit einem allgemein bekannten Listenpreis, verhandeln Rabatte und denken nicht daran, diese Verhandlungsergebnisse öffentlich auf den Markt zu tragen.“ Ginge Deutschland hier einen Sonderweg, wären Nachteile für Patienten und für das Gesundheitswesen unausweichlich. Fischer: „Auch die bereits abgeschlossenen Rabattverträge zwischen Industrie und Kassen sind vertraulich, und gerade deshalb erreichen sie beachtliche Volumina: 2011 waren es allein 1,63 Milliarden Euro.“ Rückendeckung erhielt sie von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Deren Mitglieder planten, mit der 16. AMG-Novelle Stillschweigen staatlich zu garantieren. Oppositionspolitiker kritisierten entsprechende Pläne heftig: „Kaum sind die neuen Regeln zur Preisbildung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in Kraft, wollen sie sie wieder aufweichen“, so Biggi Bender (Grüne). Das sei „bloßer Klientelismus“. Vielmehr müsse die Öffentlichkeit nachvollziehen können, ob Verhandlungen zwischen Krankenkassen und der Pharmaindustrie tatsächlich zu niedrigeren und stärker am Zusatznutzen eines Arzneimittels ausgerichteten Preisen führten.
Warten auf die AMG-Novelle
Nachdem ein Vorstoß Hessens, die Vertraulichkeit im Arzneimittelgesetz unterzubringen, im Bundesrat scheiterte, ist wieder alles offen. Ländervertreter konnten sich nur darauf verständigen, die Bundesregierung solle prüfen, „wie Preisabschläge nach §130b des Fünften Buches Sozialgesetzbuch in Deutschland vertraulich abgewickelt werden könnten, um unbeabsichtigte wirtschaftliche Effekte zu vermeiden“. Jetzt heißt es warten: Eigentlich am 23. Mai eingeplant, wird die AMG-Novelle im Gesundheitsausschuss des Bundestags vermutlich erst am 13. Juni thematisiert. Dann wird sich zeigen, inwieweit das ursprüngliche AMNOG-Konzept Bestand hat.