Die Folgen für Kinder mit seltenen Erbkrankheiten sind schwerwiegend. Insbesondere, wenn sie mit einer Therapie ein normales Leben führen könnten - vorausgesetzt, es wird rechtzeitig erkannt. Deshalb hat das Neugeborenen-Screening in den letzten Jahren immer mehr an Boden gewonnen.
Keine risikoreiche invasive Diagnostik des Ungeborenen mehr. Letzte Woche publizierte Jay Shendure von der University of Washington eine Möglichkeit, Erbkrankheiten und weitere Mutationen im fetalen Genom aus der Blutprobe der Mutter durch Sequenzierung des kompletten Erbguts herauszufinden. Wenn es sein muss, wohl auch schon recht früh in der Schwangerschaft. Ersetzt der Genom-Check in einigen Jahren vielleicht sämtliche Tests auf Krankheiten mit erblichem Hintergrund lange vor der Geburt? Die Kosten von derzeit mehreren zehntausend Dollar werden sicherlich noch fallen. Aber ist das auch sinnvoll?
14 Krankheiten - doppelt so viele „Gerettete“ wie vor 10 Jahren
Es ist noch keine fünfzehn Jahre her, da waren es weniger als eine Handvoll Stoffwechselstörungen, die eine Untersuchung an Neugeborenen aufspüren konnte. Inzwischen sind es über 40. Zwischen 36 und 72 Stunden nach der Geburt spendet der neue Erdenbürger ein paar Tropfen seines Bluts. In Deutschland überprüfen es große Labors in der Regel auf 14 „Zielkrankheiten“. Auch wenn es sich dabei um seltene Erkrankungen handelt, die die Analyse mit einer Häufigkeit von rund 1:1500 aufdeckt, so ist das Screening ein Erfolgsmodell.
Seit 2005 hat sich die Gesamt-Aufdeckungsrate um das eineinhalbfache erhöht, für Stoffwechselkrankheiten allein um rund das Doppelte. Vorher - von den neunziger Jahren bis Mitte des letzten Jahrzehnts - testeten Kinderärzte auf Phenylketonurie, den erblichen Biotinidasemangel und Galaktosämie. Inzwischen gehören zum Beispiel die „relativ“ häufige Hypothyreose oder seltenere Leiden wie die Ahornsirup-Krankheit oder Carnitinzyklus-Defekte dazu. Entscheidend ist die Möglichkeit, die Folgen der Krankheit durch entsprechende Maßnahmen wie etwa eine spezielle Diät aufzufangen. Dabei geht es oft um wenige Tage zwischen der Versorgung des Föten während der Schwangerschaft mit dem gesunden Blut der Mutter und entsprechend zugeschnittener Nahrung für den Neugeborenen.
Jede Nation screent anders
Je nach nationalem Gesundheitssystem ist die Anzahl der Zielkrankheiten unterschiedlich groß. Nach rund 30 „Core Conditions“ sucht das amerikanische „College of Clinical Genetics“, Großbritannien testet auf Phenylketonurie und Mittelketten-Acyl-CoA-Dehydrogenase (MCAD)-Mangel. Französische Labors haben sich allein auf die Phenylketonurie spezialisiert. Die Strategie in Österreich, der Schweiz, der Niederlande oder auch Australien ähnelt dem deutschen Modell.
Damit die Untersuchungen auch nach ökonomischen Gesichtspunkten sinnvoll sind, kommt es auch auf die Technik an. 10 der 14 Störungen erkennt eine Analyse mittels Tandem-Massenspektrometrie, die damit die Standardmethode für Neugeborenenuntersuchungen in Deutschland ist. Einzeltests für alle Stoffwechsel- und Hormondefekte wären kaum zu finanzieren. Trotzdem ist die Ausgabe ein großer Brocken für die Kassen. Ist die Untersuchung aller neuen kleinen Mitbürger auf seltene genetisch-bedingte Krankheiten auch langfristig erfolgreich?
Normales Leben dank früher Therapie
Das untersuchen Wissenschaftler unter Georg Hoffmann von der Universität Heidelberg in einer Langzeitstudie. Zwischen 1999 und 2009 testete das Screeningzentrum in Heidelberg rund eine Million Säuglinge aus dem Südwesten Deutschlands und fand 373 Fälle mit positivem Ergebnis. Entsprechende Maßnahmen gleich nach dem Befund scheinen fast allen Kindern ein normales Leben zu ermöglichen. Bei drei von vier Kindern beginnen sie in den ersten zwei Wochen nach der Geburt. Im Alter von dreieinhalb Jahren, so schreiben Hoffmann und seine Kollegen im „Orphanet Journal of Rare Diseases“, waren 80 Prozent der Betroffenen körperlich gesund, 92 Prozent entwickelten sich auch im kognitiven Bereich völlig normal.
Bei einem MCAD-Mangel ist die Fettsäure-Oxidation gestört. Aufgrund des zunehmenden Unterzuckers müssen je nach Kohorte 40 bis 70 Prozent der Kinder unbehandelt mit einer schweren Krankheit rechnen, bei jedem Fünften sind das gravierende neurologische Schäden, ebenso viele sterben sehr früh. Eine ausreichende Zufuhr von Kohlehydraten bei den ersten Symptomen sorgt dagegen für eine nahezu störungsfreie Entwicklung: Nach dreieinhalb Jahren waren 97 Prozent der positiv Getesteten normal intelligent, 91 Prozent auch körperlich unauffällig.
Mehr Sicherheit aus dem Web?
Ist es sinnvoll, das Spektrum der Ziele zu erweitern? Seit 1999 läuft in Bayern ein Modellversuch auf 22 Erbkrankheiten, die die Analyse zuverlässig entdeckt. Auch das Land Hessen geht mit einem eigenen Landesscreeninggesetz einen anderen Weg als der Rest der Republik und testet auf insgesamt 26 Krankheiten. Wer sich im Web umschaut, kommt jenseits der staatlichen Fürsorge auf Angebote, die noch weitaus mehr bieten. Ein Urintest für 234 Euro soll über hundert genetisch bedingte Störungen aufspüren. Allerdings sichert sich der entsprechende Anbieter ab: „Die vorgenannten Krankheiten bzw. Symptome können auch auftreten, wenn deren Ursache nicht mit einem Vorsorge-Screening ermittelt werden kann.“ Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin warnt vor unseriösen Angeboten im Netz. Sie seien überwiegend wenig sensitiv und spezifisch, notwendige Folgeuntersuchungen sehr aufwändig. Aufgrund der hohen Zahl an Krankheitszielen und erhöhter Rate an falsch positiven Ergebnissen ist ein zweiter Test relativ oft notwendig. Schließlich gebe es bei dabei auch keinen ärztlichen Berater, der den verunsicherten Eltern bei unerwarteten Ergebnissen beistehe.
Daher sagen die neuen Leitlinien zum Screeningprogramm ganz klar, dass sich der Test allein auf die Zielkrankheiten zu beschränken habe. Weitere Untersuchungen seien zu unterlassen. Ein Arzt soll die Eltern aufzuklären und ihnen auch den Befund zu übermitteln. Damit geht die Neugeborenenuntersuchung auch Konflikten mit dem Gendiagnostikgesetz von 2010 aus dem Weg, das genetische Untersuchungen bei nichteinwilligungsfähigen Personen nur unter strengen Voraussetzungen zulässt. Was das Gesetz nicht berücksichtigt: Die betreffenden Krankheiten brechen in der Regel vor dem 18. Lebensjahr aus und könnten in diesem Zeitraum auch behandelt werden. Daher nehmen immer mehr Eltern die Webangebote ausländischer Firmen in Anspruch, die eine Gendiagnostik ohne deutsches Bedenkenträgertum ermöglichen.
Wichtig: Follow-Up mit Symptom- und Therapiekontrolle
Alle zwei Jahre werden die Screening-Richtlinien überprüft und wenn sinnvoll, angepasst. So könnte etwa bald ein in Heidelberg entwickelter Test auf Mukoviszidose dazu gehören. Er ist sehr viel sensitiver als der sonst übliche Gentest und macht auch damit eine frühe Therapie mit Pankreasenzymen, Vitaminen und anderen Medikamenten möglich. Probleme mit den Ergebnissen der Blutanalyse ergeben sich aber auch noch nach der Untersuchung selber. So bemerkt der bayrische Screening-Report aus dem letzten Jahr, dass nur etwa die Hälfte der Kinder mit positivem Ergebnis auf Hypothyreose einem Endokrinologen vorgestellt wird. Nicht selten tritt die Krankheit lediglich vorübergehend auf, sodass nach zwei Jahren die belastende Therapie mit Thyroxin oder Athyreose aufhören kann, wenn sich die Schilddrüse normal entwickelt. Diese „Auslassversuche“ unterbleiben dann leider oft.
Im Idealfall - nach den Wunschvorstellungen der Verbände - wandern positive Befunde an „Trackingzentren“, die für regelmäßige Nachuntersuchungen sorgen. Spezielle Screeningzentren, sind nach den Vorstellungen der DGKJ sowohl für die Diagnostik als auch für die Langzeit-Therapie ausgerüstet. Ob auch ein Budget für diese Wünsche aufzutreiben ist, darüber laufen hitzige Diskussionen. Ohne Zweifel ist aber das Neugeborenen-Screening eine Erfolgsgeschichte der letzten zehn Jahre. Vielleicht wird der Genom-Check aus dem Mutterblut irgendwann einmal zur Konkurrenz zu jetzigen Screening. Bis es aber soweit ist, wird die Neugeborenen-Blutanalyse noch viele Kinder zu einem gesunden Leben verhelfen.