„Apotheker ohne Grenzen“ stellt die pharmazeutische Versorgung bei Katastrophen und Krisen sicher. Dr. Carina Vetye-Maler ist mit dabei, und zwar in Elendsgebieten Südamerikas. Ihr Ziel: Menschen helfen, die von ihrer Regierung im Stich gelassen worden sind.
Asche, überall Asche: Als vor ziemlich genau einem Jahr in den südchilenischen Anden der Vulkan Puyehue ausbrach, bekam durch starke Winde vor allem Argentinien eine geballte Ladung ab: „Am helllichten Tag wurde es stockdunkel, und plötzlich regnete es Gestein vom Himmel. Niemand wusste, ob und wann das wieder aufhört“, berichtet Dr. Carina Vetye-Maler. Keine der üblichen Katastrophen mit Erdbeben, Flutwellen, Todesopfern beziehungsweise schwer Verletzten – und die Weltöffentlichkeit nahm kaum Notiz: „Zwar wurde der Notstand ausgerufen, trotzdem gab es nur wenig Hilfe.“ Vor Ort herrschten unvorstellbare Zustände mit fünf bis 40 Zentimetern hohen Ascheschichten, je nach Region. Bis März 2012 war „Puyehue“ weiter aktiv, und viele Einwohner der betroffenen Gebiete entwickelten Atemwegserkrankungen, Reizungen der Haut, Irritationen der Schleimhäute oder der Augen.
Dem Land „etwas zurückgeben“
Für Carina Vetye-Maler war schnell klar, dass sie helfen muss. Die Apothekerin kennt beide Welten: Sie wuchs in Argentinien auf und studierte dort Pharmazie, kam aber später nach Deutschland. Grund genug, dem Heimatland, das ihre Ausbildung finanzierte, „etwas zurückzugeben zu wollen“. Seit der Gründung engagiert sie sich bei den „Apothekern ohne Grenzen“. Und so ging es dieses Mal zusammen mit einheimischen Ärzten, Zahnärzten, Gynäkologen und Pädiatern nach Comallo. Die kleine Ortschaft im Süden Argentiniens wurde vom Vulkanausbruch besonders arg in Mitleidenschaft gezogen: Menschen verloren ihre einzige Existenzgrundlage, nämlich Schafe. Ohne deren Wolle oder Fleisch gibt es kein Geld, um sich Medikamente leisten zu können. Schließlich brach die Versorgung vollends zusammen. „Es gab schon seit langem einen Ärztemangel, aber nach der Asche sind in einigen Dörfern die letzten Ärzte weggezogen“, erzählt Carina Vetye-Maler.
Gesundheitszentrum in der Grundschule
„Apotheker ohne Grenzen“ organisierte bald darauf einen Konvoi mit Basis-Arzneimitteln nach WHO-Standard. Die regionalen Grundschule wurde kurzerhand zum Gesundheitszentrum umfunktioniert, was sich schnell herumsprach: Bald darauf gab es lange Warteschlangen. Zwei Apothekerinnen sorgten für über 150 Patienten, besonders gefragt waren Augentropfen, aber auch Atemmasken und Schutzbrillen gegen den Staub. Nach diesem Modell entstanden weitere ehrenamtliche Gesundheitsteams, um kleine Ortschaften in der patagonischen Steppe zu versorgen.
Tatkräftige Hilfe in den Slums
Während das Comallo-Projekt Menschen vor allem in Krisenzeiten unterstützt, sind andere Vorhaben deutlich langfristiger ausgelegt. In einem Elendsviertel von Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires versuchen Kollegen mit Unterstützung von „Apothekern ohne Grenzen“, die Bevölkerung mit den nötigsten Präparaten zu versorgen. Eine Herausforderung: Gerade in Slums haben chronische Krankheiten teils hohe Prävalenzen. Im Durchschnitt leiden 40 Prozent unter Hypertonie, 37 Prozent haben Dyslipidämien, und mehr als 20 Prozent Diabetes. Zwar ist das argentinische Gesundheitssystem offiziell kostenlos. Vetye-Maler: „So viel zur Theorie. Fakt ist, dass es ohne uns vor Ort fast keine Ärzte mehr gäbe.“ Zusammen mit einem Team aus ehrenamtlich argentinischen Kolleginnen wurde ebenfalls eine Apotheke aufgebaut.
Offizin mit zwölf Quadratmetern
Wer jetzt deutsche Gegebenheiten im Kopf hat und vielleicht an die viel diskutierte Apothekenbetriebsordnung denkt, wird schnell eines Besseren belehrt. Auf etwa zwölf Quadratmetern lagern hier 100 verschiedene Wirkstoffe, und das Einzugsgebiet umfasst 20.000 Menschen. Patienten haben in der Offizin nichts verloren, sie werden über ein Fenster zur Straße versorgt – und zwar dauerhaft. „Slums sind chronische Katastrophen, da geht kein touch and go“, sagt Carina Vetye-Maler. „Man muss langfristig präsent sein, um etwas zu erreichen.“ Mittlerweile finanziert „Apotheker ohne Grenzen“ Arzthonorare, nur wenige Mediziner wären ansonsten bereit, in Slums zu arbeiten. Und wichtige Basismedikamente gehen nicht mehr aus, wie noch zu früheren Zeiten.
Regionale Märkte erschließen
„Wir versuchen, Arzneimittel vor Ort einzukaufen“, so Vetye-Maler. Das hat mehrere Gründe: Einerseits ist pharmazeutisches Personal mit den eigenen Präparaten bestens vertraut, andererseits lassen sich Zollprobleme elegant umgehen. Ihre Lieferanten nimmt die Apothekerin jedoch genau unter die Lupe: Pharmaziestudenten der Uni Würzburg und der Fachhochschule Chemie in Isny analysieren so manches Medikament. „Fälschungen sind in Argentinien eher selten. Viel häufiger treffen wir auf patentrechtliche Probleme, sprich nicht autorisierte Kopien von Originalpräparaten“, so die Apothekerin. Da vor Ort mit Arzneimitteln gearbeitet wird, welche die WHO in ihrer „Essential Medicines“-Liste führt, kommt man üblicherweise mit patentgeschützten Arzneimitteln gar nicht in Konflikt.
Herausforderungen zwischen Chagas und Diabetes
Hochwertige Pharmaka sind nur die halbe Miete. „Da früher fast immer alles fehlte, ist vielen Patienten gar nicht bewusst, wie wichtig die regelmäßige Einnahme ist.“ Gerade Analphabeten kommen mit den knappen Anweisungen ihrer Ärzte oft nicht klar, deshalb sind Medikationspläne entscheidend. Vielfach muss das Team auch falsche Vorstellungen korrigieren: Patienten glauben, ihr Antihypertonikum nur einnehmen zu müssen, falls sie Kopfschmerzen hätten. Vetye-Maler: „Die Arbeit in Elendsvierteln ist für Apotheker eine echte Herausforderung!“ Aus deutscher Sicht ungewöhnliche Leiden machen den Job nicht einfacher: Etwa 18 Prozent sind laut einem Screening mit dem Einzeller Trypanosoma cruzi infiziert, übertragen durch Raubwanzen, die in Buenos Aires eigentlich gar nicht heimisch sind. Betroffene kamen auf der Suche nach Arbeit aus dem Norden Argentiniens in die Elendsviertel und brachten Infektionen aus ihren Dörfern mit. Unter ungünstigen Bedingungen kann Trypanosoma cruzi zur Chagas-Krankheit mit kardialen beziehungsweise gastrointestinalen Symptomen führen. Fehlernährung und Hunger kommen mit hinzu, viele Heranwachsende haben kariöse, völlig zerstörte Gebisse. „Deshalb führen wir mit rund 400 Kindern seit Jahren ein Zahnhygieneprojekt durch.“ Nicht nur kleine und große Patienten sind zu überzeugen, auch bei der Verwaltung bestehen Wissenslücken.
Auf Tuchfühlung mit Behörden
„Da in den Slums keine Apotheker gearbeitet hatten, mussten wir erst zeigen, was Pharmazeuten leisten, um die Gesundheit zu verbessern. Unser Beruf ist bei städtischen Mitarbeitern ziemlich unbekannt“, berichtet Vetye-Maler. Für den Einsatz sind neben pharmazeutischem Wissen vor allem Diplomatie und Fingerspitzengefühl gefragt. Wer Interesse an der Arbeit vor Ort hat, braucht zudem solide Sprachkenntnisse. „Damit meine ich, wirklich gut Spanisch zu sprechen und das nötige Fingerspitzengefühl mitbringen, um mit Behörden vor Ort umzugehen.“ Mehrtägige Schulungen in Deutschland vermitteln vor dem Einsatz praktisches und psychologisches Wissen, um Kollegen auf die völlig neue Situation vorzubereiten.