Diabetes und Depression: Ein Teufelskreis, dem Patienten nur mit professioneller Hilfe entkommen. Beide Erkrankungen stehen in engem Zusammenhang - ist die Seele wieder im Lot, können sich die Laborparameter verbessern.
Ein Unglück kommt selten allein: Dr. Martin Teufel, Universitätsklinik Tübingen, berichtet von einer Patientin, die seit ihrem siebten Lebensjahr an Diabetes mellitus leidet. In der Pubertät kamen Essstörungen mit hinzu, schließlich schnellte ihr Gewicht auf 70 Kilogramm in die Höhe. Bei der Anamnese zeigten sich sowohl metabolische als auch psychiatrische Auffälligkeiten – nur gemeinsam konnten Diabetologen und Therapeuten der Betroffenen helfen, wieder ein normales Leben zu führen.
Unheilige Allianz
Laut Privatdozent Dr. Bernhard Kulzer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie in der Deutschen Diabetes Gesellschaft, haben rund zwölf Prozent aller Diabetiker mit Depressionen zu kämpfen, bei der Allgemeinbevölkerung sind es etwa sechs Prozent. „Eine erhöhte Depressivität wie auch eine klinische Depression sind sowohl ein körperliches als auch ein seelisches Problem“, sagt Kulzer. Der Psychologe beschreibt neben Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit auch Schmerzen, Schlaflosigkeit oder Essstörungen – gemäß einer kürzlich veröffentlichten Arbeit ist rund jeder zweite Typ2-Diabetiker von Angst beziehungsweise Niedergeschlagenheit betroffen.
Stressachse am Durchdrehen
Kulzer sieht den Grund vor allem in Stressfaktoren, zu denen auch Diagnostik und Therapie von Diabetes mellitus gehören. Chronische Krankheiten werden Teil des Alltags und schränken die Lebensqualität stark ein. Darunter können Beruf und Familie leiden, gerade bei Typ 2-Diabetikern, die sich an ein Leben vor Insulin beziehungsweise Blutzuckermessgeräten erinnern. Besonders hoch ist die Belastung, sollten bereits Spätfolgen der Krankheit auftreten. Auf neuronaler Ebene wird ausgehend von der Amygdala die so genannte Stressachse aktiviert, mit Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde. Ein hoher Corstisolspiegel wiederum kurbelt den Glykogenabbau in Muskeln an, und die Leber synthetisiert ebenfalls fleißig Glukose. Stressbedingt ausgeschüttetes Cortisol fördert gleichzeitig die Insulinresistenz.
Messen und Spritzen? Alles egal!
Patienten werden nicht nur von ihrer seelischen Erkrankung direkt belastet. Sie kontrollieren auch Blutzuckerwerte seltener und vernachlässigen Insulin beziehungsweise orale Antidiabetika. Studien haben gezeigt, dass Depressionen mit einer schlechteren Kontrolle von Typ 2-Diabetes einhergehen. Sinkt die Compliance, beobachten Kollegen oft miese HbA1c-Werte. Übergewichtige Diabetiker mit depressiver Episode brechen außerdem Programme zur Gewichtsverringerung weitaus häufiger ab, als Patienten ohne seelische Befindlichkeitsstörung. Mit Schulung oder Medikation werden sie bei diesen Menschen wenig erreichen, vielmehr ist psychiatrische Hilfe gefragt. Ohne entsprechende Intervention steigt ansonsten das Risiko möglicher Folgeerkrankungen und Patienten sterben in jüngeren Jahren.
Vielseitige Fragebögen
Kulzer: „Um bei Menschen mit Diabetes schlechte Blutzuckerwerte und Folgeerkrankungen zu vermeiden, ist es wichtig, sowohl eine erhöhte Depressivität als auch eine Depression früh zu erkennen und zu behandeln.“ Allerdings übersehen Kollegen entsprechende Komorbiditäten oft – eine Möglichkeit wäre, den WHO-5-Fragebogen zum Wohlbefinden jährlich abzuarbeiten. In der Praxis geben der ITAS- (Insulin Treatment Appraisal Scale) und der PAID-Fragebogen (Problem Areas in Diabetes) zudem Hinweise auf eine mangelnde Therapietreue. Haben Kollegen seelische Befindlichkeitsstörungen erst einmal nachgewiesen, kommen laut Kulzer Antidepressiva, Verhaltenstherapien oder Kombinationen beider Verfahren zum Einsatz, entsprechend der Leitlinie. Diabetiker können lernen, ihr Leiden zu akzeptieren, anstatt dagegen anzukämpfen oder zu verzweifeln. Emotionale und kognitive Akzeptanz führt im besten Fall ohne sonstige Änderungen der Therapie zu einer deutlich besseren Stoffwechsellage. Allerdings gibt es bundesweit noch wenige Therapeuten, die sich auf diese Thematik spezialisiert haben. Bei Psychopharmaka lohnt ein kritischer Blick: Trizyklische Antidepressia wie Nortriptylin können die Stoffwechsellage verschlechtern, während bei SSRIs wie Fluoxetin und Sertralin Hypoglykämien beobachtet wurden, inklusive notwendiger Anpassung der Insulintherapie. Dennoch rät die Leitlinie „Psychosoziales und Diabetes mellitus“ an erster Stelle zu SSRIs. Positive Effekte von Stressreduktionsmaßnahmen wie der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson oder der Biofeedback-Therapie ließen sich bis heute nicht zweifelsfrei nachweisen.
Vorsicht Alkohol
Bei Diabetes und Depression kommt schnell ein dritter Ungunstfaktor hinzu: der Alkohol-Abusus. Zwar zeigen Untersuchungen immer wieder, dass moderater Konsum vor Typ 2-Diabetes schützen kann, speziell bei Männern. Chronischer Missbrauch, bei Depression nicht selten, gilt jedoch als möglicher Auslöser dieser Stoffwechselerkrankung. Hat sich Diabetes erst einmal manifestiert, führt Ethanol zu weiteren Schäden: Diabetische Nephropathien treten vor allem zusammen mit hochprozentigen Getränken auf. Auch hemmt Ethanol die Gluconeogenese und die Verstoffwechslung freier Fettsäuren in der Leber. Nach exzessivem Konsum gerät der Körper schnell in Schieflage inklusive Ketoazidose: eine gefürchtete Komplikation, bei der sich Carbonsäuren im Blut anhäufen und den pH-Wert senken. Im Notfall muss Insulin zusammen mit Elektrolyten und Flüssigkeit verabreicht werden, ansonsten droht Lebensgefahr. Alle Komplikationen haben noch einen weiteren Aspekt: die Kostenfrage.
Großes Leid – Hohe Summen
Niederländische Forscher untersuchten kürzlich gesundheitsökonomische Aspekte. In einer retrospektiven Fall-Kontroll-Studie erfassten sie drei Jahre lang Daten von 7.128 depressiven Patienten und 23.772 nicht-depressiven Kontrollpersonen. Insgesamt identifizierten sie 393 depressive und 494 nicht-depressive Patienten mit Diabetes. Bei ersteren betrugen die ambulanten Kosten 1.039 Euro pro Jahr, im Vergleich zu 492 Euro ohne psychiatrische Komorbidität.
Einige Monate zuvor beschäftigte das Thema Gesundheitsökonomen aus Hamburg. Im Rahmen einer systematischen Literaturrecherche fanden sie insgesamt 388 Studien, von denen 16 im Volltext analysiert wurden. Für Diabetiker mit Depression errechneten die Autoren Mehrkosten zwischen 35 und 300 Prozent im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Werte lassen sich unter anderem auf zusätzliche Therapien von Diabetes durch mangelnde Compliance zurückführen. Jetzt wollen sich Forscher der Frage widmen, ob eine effektivere Behandlung von Depressionen bei Diabetes-Patienten die Kosten langfristig zu reduzieren vermag – ein weiteres Argument, bei Betroffenen auch nach psychiatrischen Auffälligkeiten zu fahnden.