Für die einen sind sie eine harmlose Kinderkrankheit, für die anderen eine schwere Gesundheitsgefährdung. Eigentlich könnten die Masern in Europa schon längst ausgerottet sein, wenn die Impfquoten hoch genug wären.
„Eine Maserninfektion ist keinesfalls eine harmlose Kinderkrankheit“, weiß Dr. Nina Wagner, Ärztin in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der DRK Kliniken Berlin/Westend. Masern führen meist zu einer transitorischen Immunschwäche, die etwa sechs Wochen andauert. „Bakterielle Superinfektionen können während dieser Zeit zu schwerwiegenden Folgeerkrankungen wie Lungenentzündung, Mittelohrentzündung, Diarrhö und Nervenkrankheiten führen“, erklärt sie. Bei einer Masernepidemie erkranken zahlreiche Kinder so schwer, dass sie stationär behandelt werden müssen, einige tragen sogar irreversible Schäden davon.
Spätfolgen sind nicht zu unterschätzen
Die akute postinfektiöse Enzephalitis ist eine besonders gefürchtete Komplikation. Etwa 0,1 % der Masernpatienten erkranken an ihr. Dabei treten Kopfschmerzen, Fieber und Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma auf. Bei etwa 10–20 % der Betroffenen endet sie tödlich, 20–30 % der Erkrankten leiden unter Residualschäden am Zentralnervensystem. Während bei durchschnittlich einem von 1.000 Masererkrankten eine Masernenzephalitits auftritt, geschieht dies nur bei weniger als einem von 1 Million Maserngeimpften. Selbst wenn ein Kind die Masern gut überstanden hat, kann es zu gefährlichen Spätfolgen kommen. Eine zwar seltene, aber immer tödlich verlaufende Spätfolge von Masern ist die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), die bislang in einem von 10.000 bis 100.000 Fällen beobachtet wurde. Sie tritt Monate bis zehn Jahre nach einer Maserninfektion auf und äußert sich in einer generalisierten Entzündung des Gehirns. Vor allem Kleinkinder, die vor ihrem ersten Geburtstag an Masern erkrankten, sind von SSPE betroffen.
Masernfälle zunächst rückläufig
Nach zunächst rückgängigen Zahlen stieg die Anzahl der gemeldeten Masernfälle in den letzten beiden Jahren in vielen europäischen Ländern wieder dramatisch an. Bis Ende Dezember 2011 zählte das RKI 1.607 Masernfälle, das sind mehr als doppelt so viele Fälle wie in den Jahren 2010 und 2009 (2010: 780, 2009: 571), inklusive einem masernbedingten Todesfall. Auf der Internetseite des Robert Koch-Instituts (RKI) ist zu lesen, dass wahrscheinlich „die Zahl der tatsächlichen Erkrankungen wesentlich höher ist, da einerseits ein großer Teil der Erkrankten nicht vom Arzt behandelt wird und andererseits nicht jede ärztlich behandelte Erkrankung zur Meldung kommt.“ Von Epidemien spricht Susanne Glasmacher, Pressesprecherin des RKI, dennoch nicht gerne: „Bei den Masernausbrüchen in Deutschland wurde stets ein Erreger von außen eingeschleppt, der sich dann bei einer Gruppe von Menschen, die nicht ausreichend geschützt waren, ausbreiten konnte.“
Auch Frankreich wurde im Jahr 2011 von einer Masernwelle überrollt, die rund 15 Tausend Erkrankte zufolge hatte. Sechs von ihnen starben. Insgesamt erkrankten im letzten Jahr europaweit etwa 30 Tausend Menschen an Masern. Die meisten waren gar nicht oder nur unzureichend geimpft. Wegen seiner unzureichenden Impfrate exportiert Europa das Virus in Regionen, in denen es längst als ausgerottet galt, etwa nach Nord- und Südamerika.
Masernfrei bis 2015
Die 53 Mitgliedsstaaten der WHO-Euro-Region wollen Masern und Röteln in Europa bis zum Jahr 2015 ausgerottet haben. Mit dem Beginn der Masernimpfungen (DDR: 1970, alte Bundesländer: 1973) traten zunächst kontinuierlich immer weniger Masernerkrankungen in Deutschland auf. Seit der 2001 eingeführten Meldepflicht für Masern sanken die Zahlen von 6.037 übermittelten Erkrankungsfällen im Jahr 2001 zunächst auf 123 Fälle im Jahr 2004 und blieben mit Ausnahme des Jahres 2006 (2.307 Fälle) jeweils unter 1.000 Erkrankungsfällen pro Jahr.
Impfempfehlung der STIKO
Zum optimalen Schutz vor Masern empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) eine Grundimmunisierung für Babys im Alter von elf bis 14 Monaten. Dieser sollte eine zweite Impfung mit 15 bis 23 Monaten folgen.
Seit August 2010 gilt die Impfempfehlung der STIKO auch für alle nach 1970 geborenen Erwachsenen, die entweder noch gar nicht oder nur einmal gegen Masern geimpft wurden oder einen unklaren Impfstatus aufweisen.
Die Masernimpfung erfolgt mit einem Lebendvirusimpfstoff, hergestellt aus abgeschwächten Masernviren, die auf Hühnerfibroblasten vermehrt werden. Er ist zwar einzeln erhältlich, wird aber meist in kombinierter Zusammensetzung mit dem Mumps- und dem Röteln- sowie auch mit dem Varizellenvirus angeboten (MMR- bzw. MMRV-Vakzine).
Herdenimmunität
Die Masernimpfquote in Deutschland ist laut Angaben des RKI - genauso wie in Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz - noch nicht ausreichend, um die schwächsten Individuen der Gesellschaft zu schützen. Dazu zählen immunsupprimierte Menschen, die raren Fälle, die nach einer einmaligen Impfdosis keinen Impfschutz entwickeln und Babys unter elf Monaten. Anders sieht es zum Beispiel in Finnland, Schweden und den Niederlanden aus. Dort ist die Impfrate sehr hoch und die Masernmorbidität entsprechend niedrig. Dem Prinzip der Herdenimmunität zufolge müssen 95 Prozent einer Bevölkerung geimpft sein, um auch die übrigen fünf Prozent, die nicht geimpft werden können, zu schützen. In der Praxis bedeutet das, dass 95 Prozent der Bevölkerung in Deutschland (und möglichst auch aller anderen europäischen Staaten) zwei Impfeinheiten erhalten müssen, um das Masernvirus bei seiner Ausbreitung zu stoppen. Warum gelingt das nicht?
Unzureichende Impfquote in Europa
Von größeren Masernausbrüchen in Deutschland waren im Jahr 2010 eine Landesunterkunft für Asylsuchende in Schleswig-Holstein, und 2011 eine Waldorfschule in Baden-Württemberg und eine Schule in Berlin-Reinickendorf nach einer Hortreise betroffen. Alle Erkrankten waren entweder nicht geimpft oder hatten einen unklaren Impfstatuts. Von einer generellen Impfmüdigkeit spricht Susanne Glasmacher vom RKI dennoch nicht, wenn es um die Masern- bzw. die häufig verabreichte Mumps-Masern-Röteln (MMR) Kombinationsimpfung geht. „Auch wenn die Impfquote in Deutschland noch nicht ausreichend ist, steigt sie bei den Schulanfängern doch kontinuierlich an“, so Glasmacher.
Warum die Impfquote in Europa immer noch nicht ausreicht, um die Masern in die Geschichtsbücher zu verbannen, liegt möglicherweise gar nicht am bewussten Verzicht mancher Menschen auf eine Impfung. Einige Europäer vergessen sie schlicht. Andere wiederum entscheiden sich bewusst gegen eine Impfung. Die Gründe können weltanschaulicher oder religiöser Natur sein, oder einfach die Angst vor Nebenwirkungen wie kurzen, starken Fieberschüben, vorübergehenden Hautausschlägen oder seltenen allergischen Reaktionen. Auch die Befürchtung gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Impfstoffstabilisatoren – meist Derivate von Aluminium oder Quecksilber – davonzutragen, ist ein Grund für einige Menschen, sich nicht impfen zu lassen. Pierluigi Lupalco vom Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten hält diese Angst für unbegründet: “Die Impfstoffe, die wir heute in Europa benutzen, also die Impfstoffe gegen Masern, Mumps und Röteln, enthalten weder Quecksilber noch Aluminium.“
Körperverletzung?
Michael Friedl, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in Heidelberg und außerdem Vorsitzender des Vereins Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V., steht Impfstoffen trotzdem skeptisch gegenüber. Für ihn sind sie grundsätzlich „Fremdstoffe, giftige Substanzen, deren Wirkungen und Nebenwirkungen in keiner Weise gut untersucht sind.“ Stoffe mit unklaren Langzeitwirkungen würden den Kindern bei Impfungen „unter die Haut gejubelt“, so Friedl im Dezember 2011 im Interview mit dem SWR. In der Sendung „Zur Sache Baden-Württemberg: Impfpflicht ja oder nein“ bezeichnete er Impfungen sogar als „Körperverletzung an Kindern“. Dem kann Dr. Günter Pfaff, Epidemiologie am Landesgesundheitsamt in Baden-Württemberg, nicht zustimmen. „Ein Impfstoff, der nicht ausgiebig erprobt ist, hätte überhaupt keine Chance auf den Markt zu kommen“, so Pfaff.
Auch ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Autismus und der MMR-Impfung hält sich hartnäckig im Lager der Impfgegner. Der Engländer Andrew Wakefield hatte 1998 derartige Zusammenhänge im renommierten Journal „Lancet“ veröffentlicht. Obwohl seine Forschungsergebnisse schon sehr viel früher widerlegt wurden, revidierte „Lancet“ den Artikel erst 12 Jahre später. 2011 berichtete das Deutsche Ärzteblatt, dass Wakefield seine Daten offenbar gefälscht hatte.
Impfen zum Schutz der Kleinsten?
Dr. Harald Rickert, Kinderarzt in Besigheim bei Stuttgart, ist ein Verfechter der Impfmedizin. „Kaum ein Fortschritt hat so viele Menschenleben gerettet wie die Impfmedizin in den letzten 50 Jahren“, begründet Dr. Rickert seine Haltung. Zu seinen Patienten gehört auch der inzwischen 18-jährige Max, der mit einem halben Jahr an Masern erkrankte. Zunächst schien er die Krankheit gut überstanden zu haben, doch mit 10 Jahren litt der Junge vermehrt an Gedächtnisstörungen und motorischen Einschränkungen. Einige Monate nach dem ersten Auftreten dieser Symptome fiel Max, wahrscheinlich ausgelöst durch eine schwere Streptokokkeninfektion, in ein Wachkoma. Sein Kinderarzt, Dr. Rickert, spricht sich sogar für eine Impfpflicht für alle Kinder aus, die einen Kindergarten besuchen: „Säuglinge unter einem Jahr sind darauf angewiesen, von keinem anderen angesteckt zu werden“ begründet er seine Forderung. Nur bei einer vollständigen Durchimpfung von Kindern, die öffentliche Betreuungseinrichtungen besuchen, sei ein Schutz der Kleinsten vor Masern möglich.
Das sehen Impfkritiker ganz anders. Dass Kinder unter 11 Monaten überhaupt an Masern erkranken können, ist für Friedl gerade eine Folge von Impfungen. Vor Einführung der Masernimpfung sei das Immunsystem der Mütter durch wilde Masernviren „derart geboostert worden, dass der Nestschutz von Säuglingen ausreichend war, um sie vor einer Erkrankung zu schützen“. Die Masernimpfung schwäche den Nestschutz der Säuglinge so sehr, dass es überhaupt erst zu Masernepidemien kommen könne. Für Friedl sind Masern, wie auch Windpocken, erst in den letzten Jahren zu einer bedrohlichen Krankheit umstilisiert worden. Wissenschaftliche Belege für diese Theorie präsentiert er jedoch nicht. Das Schicksal von Max ist für ihn ein „tragischer Einzelfall“.