Stephen Kingsmore und Craig Benson haben eine Vision. Sie möchten, dass rezessiv vererbte Krankheiten nicht mehr auftreten. Würden zukünftige Eltern bei der Familienplanung ihr Genom sequenzieren lassen, wäre das möglich - theoretisch.
Letztlich kommen dem glücklichen Paar doch Bedenken. „In meiner Familie gab es doch schon einige Fälle dieser unaussprechlichen Erbkrankheit. Was ist, wenn unser Kind schwer behindert ist? Was sollen wir tun? Fruchtwasseruntersuchung per Amniozentese? DNA-Screen des Embryos aus dem Mutterblut? Ein Schwangerschaftsabbruch beim befürchteten Ergebnis, der nicht nur körperliche Beschwerden zurücklässt? Oder bei begründetem Verdacht in-vitro-Fertilisation mit Präimplantations-Diagnostik? 600 Krankheiten mit einem Test Seit kurzem gibt es eine weitere Möglichkeit, zumindest Informationen über das Risiko einer Behinderung durch monogene rezessive Erbkrankheiten zu bekommen. Nicht nur über ein einzelnes Leiden oder eine Handvoll davon, sondern gleichzeitig für rund 600 körperliche oder geistige Behinderungen. Ärzte am Children’s Mercy Hospital im amerikanischen Kansas City testen inzwischen damit regelmäßig Paare auf einen Überträgerstatus bei rezessiven Erbkrankheiten. Er „hat das Zeug, die Familienplanung zu revolutionieren wie einst die Pille“ schrieb der Wissenschaftsjournalist Volker Stollorz in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über den DNA-Test. Eng mit dieser „Revolution“ sind Craig Benson und seine Frau sowie Stephen Kingsmore verbunden. Die Tochter der Bensons leidet unter einer neurodegenerativen rezessiven Erbkrankheit: Die Vogt-Spielmeyer-Stock-Krankheit oder auch Neuronale Ceroid-Lipofuszinose ist unheilbar und führt zum Tod innerhalb der ersten drei Lebensjahrzehnte. Oft bricht die Krankheit erst einige Jahre nach der Geburt aus. Das bedeutet, dass die ahnungslosen Eltern vielleicht schon weitere Geschwister gezeugt haben. Das Ehepaar wollte sich jedoch nicht damit abfinden, dass vielleicht noch viele Kinder mit Krankheiten geboren werden, weil eine Mutation bei den entsprechenden Allelen der Eltern in spe zum Funktionsverlust eines wichtigen Enzyms führt. Sie gründeten eine Stiftung und fanden so den Genom-Experten und Pädiater Kingsmore. Mit den notwendigen Forschungsmitteln ausgestattet, entwickelten er und seine Kollegen den Test, der auf der Sequenzierung wichtiger Genabschnitte des Genoms beruht (Next Generation Sequencing) und damit Mutationen aufspürt. Durchschnittlich drei Krankheitsallele pro Mensch Seltene Erbkrankheiten führen trotz ihres Namens zu jedem fünften Todesfall eines Kindes aufgrund einer Krankheit. Rund 1150 solcher Leiden sind bekannt, die rezessiv nach den Mendel‘schen Regeln weitergegeben werden. Die neue Sequenzierungstechnik untersucht dabei rund 8000 Regionen. Einige der bekanntesten Beispiele der Krankheiten, die der neue Test erfasst, sind etwa die Tay-Sachs-Krankheit, ein schweres neurologisches Leiden, das bei Ashkenazy-Juden besonders häufig ist, Mucoviszidose oder auch Sichelzellenanämie. Dass Bemühungen um die Früherkennung auch von Überträgern nicht umsonst sind, beweist das Beispiel Tay-Sachs. In jüdischen Gemeinden hat ein gezieltes Screening die Verbreitung der Krankheit um 90 Prozent reduziert. Ähnliche Erfolge gibt es bei der ß-Thalassämie auf Zypern und Sardinien. Bei den ersten Auswertungen bei Tests an rund einhundert Kindern registrierten die Ärzte immerhin rund drei rezessiv vererbte Mutationen für 450 getestete Krankheiten pro Genom. Ausserdem stellten die Ergebnisse die bisherige Datenlage in Frage. Etwa jeden zehnte beschriebene und in den Datenbanken dokumentierte Mutation ist anscheinend nicht korrekt. Ware damit der zukünftige Routinetest auf defektes Erbgut vielleicht gleich nach der Geburt sinnvoll? Krankheit - vielleicht - und wie schwer? Die Kosten von rund 450 Euro pro Test wären sicherlich überschaubar - besonders im Hinblick auf fallende Preise bei der Sequenzierung und enorme Behandlungskosten der betreffenden Krankheiten. Was die Humangenetiker umtreibt, sind jedoch nicht nur ökonomische, sondern auch ethische und persönliche Herausforderungen. Welcher Arzt kennt jede einzelne Krankheit des Tests so genau, dass er die besorgten Eltern darüber informieren kann, was auf sie zukommt, wenn sie sich zur Zeugung entschließen. Die Lebenserwartung von Mucoviszidose-Kindern stieg dank immer besserer Behandlung in den letzten Jahrzehnten vom Teenageralter bis über 60 Jahre. Thomas Cremer vom Biozentrum der Uni München betont, dass die Schwere einer Krankheit nicht nur von den Genen, sondern auch von Umwelt und epigenetischen Faktoren abhänge. Manche Vorhersagen sind damit nichts anderes als Spekulation. Schließlich sammeln die Forscher weiter Daten über Zusammenhänge zwischen Krankheiten und Genom. Wer die Sequenzen der Eltern in einigen Jahren noch einmal durchsieht, stößt vielleicht nicht nur auf neue Gefahren für geplante Kinder, sondern auch auf Risiken für das (noch) glückliche Paar. Gibt es ein Recht auf Nichtwissen für Genominformationen? Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik hat eine Richtlinie entworfen, die sich besonders um die Aufklärung der Probanden vor dem Test beschäftigt. 500 Euro für das „garantiert“ gesunde Baby In den USA machen sich die Bensons für eine schnelle Einführung besonders in den Reproduktionskliniken stark. Samen- und Eizellspender sollen damit einen „Getestet“-Stempel erhalten. Sind wir damit auf dem Weg zum „garantiert“ gesunden Baby und der „Ausrottung“ von Erbkrankheiten - zumindest in Kreisen, die sich die entsprechende Vorsorgetechnik leisten können? Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik befürwortet einen Test für Paare bei entsprechenden Risiken in der Familiengeschichte, lehnt aber ein Massen-Heterozygoten-Screening ab. „Aber ganz ehrlich“, sagt ihr Vorsitzender Andrè Reis, „auch uns Fachleute überrollt das.“ In Amerika sind Biotech-Firmen jedoch schon mittendrin, entsprechende Wünsche ihrer Kunden zu erfüllen. Counsyl‘s Test überwacht die Mutationen von rund einhundert Krankheiten und kostet rund 500 Euro pro Paar. Auch Genpath Diagnostics mit 160 und Ambry mit rund 80 Krankheiten erfüllen den Wunsch nach Sicherheit bei der Fortpflanzung. Viele Krankenkassen übernehmen dort inzwischen die Kosten für den Test nach entsprechender Indikation. Strafen für Test-Verweigerer Die neuen Sequenziertechniken werden unweigerlich immer mehr Abweichungen von der Norm im Genom aufdecken. Was die Technik nicht kann, sind Einschätzungen, wie bedeutend diese Mutationen für das Wohlergehen des Menschen sind. Lohnt es sich deswegen ein Verzicht auf ein Kind, das mit einer 75%-Wahrscheinlichkeit gesund sein wird? Andersherum gefragt: Werden einmal Eltern wegen ihres behinderten Kindes vor Gericht stehen, weil sie den Test trotz Kassenleistung verweigert oder sich wissentlich für das Risiko entschieden haben? Oder bringt uns die Technik soweit, dass wir bei der Partnerwahl ein genetisches Unbedenklichkeitszeugnis einfordern? Wer im Internet die Seite gmatch.org anklickt, stößt auf eine Partnervermittlung, die bereits jetzt Rendezvous paarungswilliger Singles per Genominformation in die Wege leitet. Können Sie sich einen Liebesbrief zusammen mit dem Ausdruck eines Heterozygoten-Tests vorstellen?