Pharmazeutische Hersteller rüsten sich für die Zukunft: Klasse statt Masse lautet ihre neue Philosophie. Anstelle von Therapien, die allen Patienten übergestülpt werden, rücken mehr und mehr individualisierte Konzepte mit Blick auf das Genom.
Egal ob Wirkung oder Nebenwirkung von Arzneistoffen – unser Erbgut verrät, wo es langgeht. Nur eine Modeerscheinung? Keineswegs: Literaturrecherchen zur „personalized medicine“ bei PubMed ergaben für das Jahr 1980 magere fünf Treffer, 1990 waren es 68, 2000 bereits 124, und 2010 sage und schreibe 1.497. Immer mehr Forscher widmen sich des Themas.
Aktenzeichen XY – teilweise gelöst
Bevor Humangenetiker tiefen Einblick in das Erbgut nehmen konnten, hatten sie schon eine grundlegende Erkenntnis: Frauen sind anders, Männer auch – vor allem beim Stoffwechsel. Die Gender Medicine war geboren, ein erster, zaghafter Schritt hin zur individualisierten Therapie. Forscher tun sich selbst heute noch mit diesen Themen schwer. Das beginnt bei der präklinischen Prüfung: Nach wie vor werden hauptsächlich männliche Versuchstiere eingesetzt. Auch in klinischen Studien ist die Situation nicht besser: „Obwohl Medikamente unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer haben, sind Frauen noch immer mit einen Anteil von nur 22 Prozent an den ersten Phasen beteiligt“, kritisiert die italienische Forscherin Mariarita Cassese. Neben Unterschieden bei der Resorption und der Verteilung im Körper kommt das Erbgut bei fremdstoffmetabolisierenden Enzymen, den Cytochromen, ins Spiel: Frauen haben ein aktiveres CYP3A4, bei Männern dominieren CYP2D6 und CYP1A2. Ziel ist jetzt, Medikamente nicht mehr an Krankheiten und an großen Patientenkollektiven auszurichten, sondern an Menschen mit ihrer individuellen, genetischen Ausstattung.
Wundersame Cytochrome
Immer mehr Firmen setzen deshalb auf die personalisierte Medizin. Wie der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA) berichtet, ist in Deutschland für 18 Wirkstoffe ein genetischer Test vorgeschrieben, und bei weiteren fünf Substanzen empfehlen Hersteller entsprechende Untersuchungen. Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) listet sogar 70 Arzneistoffe mit Schnittstelle zur Pharmakogenomik. Mit Hilfe von Genchips wie dem AmpliChip CYP450 lassen sich etwa Varianten von CYP2D6 und CYP2C19 detektieren, die bei rund einem Viertel aller Arzneistoffe relevant sind. CYP2D6 hat Auswirkungen auf den Plasmaspiegel trizyklischer Antidepressiva wie Imipramin: „Poor Metabolizer“ mit einer schwachen Genexpression entwickeln unter Standarddosierungen schnell gefährlich hohe Spiegel des Pharmakons, während „Rapid Metabolizer“ aufgrund der schnellen Verstoffwechslung vom Medikament nicht profitieren. Anstatt mehrere Antidepressiva über „trial and error“ auszuprobieren, könnten genomische Daten schnell den Weg zur richtigen Therapie ebnen.
Skepsis im Kollegenkreis
Trotz dieser Erfolge sind nicht alle Ärzte und Apotheker restlos überzeugt. Momentan wird vor allem Tamoxifen bei der adjuvanten Brustkrebstherapie kontrovers diskutiert. Aus diesem Prodrug entsteht durch CYP2D6 der wirksame Metabolit Endoxifen. Jede zehnte Patientin gehört jedoch zu den „Poor Metabolizers“ mit einer zu geringen Aktivität dieses essentiellen Biokatalysators. Nachdem ältere Untersuchungen darauf hindeuteten, dass postmenopausale Frauen mit niedrigem Enzymspiegel trotz Pharmakotherapie häufiger erneut an Brustkrebs erkranken, kam jetzt die Kehrtwende: Aktuelle Arbeiten konnten diesen Hinweis nicht bestätigen. Und so diskutieren Experten, ob eine CYP2D6-Phänotypiserung Sinn macht beziehungsweise welche methodischen Mängel hinter den verschiedenen Ergebnissen stecken könnten.
Blutgerinnung sicher steuern
Das Thema ist auch bei Antikoagulanzien wie Warfarin interessant: Trotz einer individuellen Dosierung, die Gewicht, Alter und Lebensgewohnheiten berücksichtigt, kam es immer wieder zu schweren Blutungen. Schuld daran sind Varianten des CYP2C9-Gens: Bei Patienten mit CYP2C9*2 oder CYP2C9*3 muss die Dosis auf etwa 75 Prozent des üblichen Werts verringert werden. Treten beide Allele gleichzeitig auf, reicht sogar schon 25 Prozent der ursprünglichen Menge. Cytochrome sind aber nur die halbe Miete: VKORC1, ein Vitamin K-Epoxid-Reduktase-Gen, verändert sowohl den Spiegel als auch den Wirkort dieses Arzneistoffs. Anstatt eine Standarddosis Warfarin zu verabreichen und dann Laborparameter zu erfassen, Blutungsrisiko inklusive, sind Gentests die sicherere Variante. Zusammen mit Online-Tools wie „WarfarinDosing“ lässt sich aus pharmakogenomischen Daten eine individuelle Dosierung ermitteln.
Sequenzdaten für alle
Ganz klar: Bereits heute haben molekularbiologische Ansätze die Therapie einiger Krankheiten revolutioniert. Dass über die Jahre nicht weitaus mehr Arzneistoffe mit genetischen Polymorphismen in Zusammenhang gebracht wurden, lag schlicht und ergreifend am lieben Geld. Seit Sequenzierungen immer preisgünstiger werden, können sich alle Interessierten eine Genomanalyse leisten: 23andMe, DNAdirect, Knome oder andere Firmen bieten Informationen zum eigenen Erbgut für wenige hundert US-Dollar an. Anstatt das gesamte Genom Base für Base zu sequenzieren, untersuchen Labors so genannte Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs). Diese repräsentieren zirka 90 Prozent aller genetischen Varianten. Über Online-Portale bringen Anbieter Sequenzdaten auch mit Arzneistoffwirkungen oder -unverträglichkeiten in Zusammenhang.
Vom Genom zum Epigenom
Die personalisierte Medizin ist aber weitaus komplexer: Nachdem Wissenschaftler erkannt haben, welche Bedeutung der Basenabfolge im Erbgut zukommt, steht der nächste Quantensprung ins Haus: die Epigenetik. Verändert unser Körper einzelne Basen der DNA durch Methylierung, hat das Folgen: Bestimmte Regionen des Erbguts werden aktiviert beziehungsweise stumm geschaltet, ohne die Erbinformation zu verändern. Auch Histone, also DNA-bindende Proteine, spielen hier eine zentrale Rolle. Hinzu kommt das charakteristische Stoffwechselgeschehen einer jeden Zelle, bekannt als Metabolom – neue Herausforderungen für die Forschung.
Meine Zellen – meine Therapie
Dennoch geht die Forschung immer in die gleiche Richtung: Bestehende Therapien sollen optimiert, sprich geeignete Patienten ausgewählt werden. Organovo, eine US-amerikanische Biotech-Startup, hat weitaus größere Pläne: Forscher vermehren patienteneigene Zellen, etwa aus Biopsien, im Labor, und stellen daraus Gewebe als Organmodell her. Mit großen Substanzbibliotheken könnten in nicht allzu ferner Zukunft Arzneistoffe gefunden werden, die bei seltenen Krankheiten individuell den gewünschten Effekt zeigen – weg von der Gießkanne, hin zur maßgeschneiderten Behandlung einzelner Patienten.