Diagnostik und Therapie im Supermarkt? In vielen Ländern hat sich das Konzept längst bewährt, um eine preisgünstige Versorgung an sieben Tagen pro Woche zu garantieren. Europa zieht jetzt mit einem Anbieter aus Finnland nach.
Viele Menschen kennen das Problem: Wieder einmal von morgens bis abends gearbeitet, mit immer stärker kratzendem Hals, für den fälligen Arztbesuch fehlt aber die Zeit. Dann kommt Fieber mit hinzu, natürlich am Freitagnachmittag. Für Betroffene blieb bis dato nur der Gang zur Bereitschaftspraxis. Längst decken sich ärztliche Sprechzeiten nicht mehr mit unseren Lebensgewohnheiten – eine Marktlücke, auch in anderen Industrienationen.
Yes, we are open!
In den USA gibt es deshalb seit Jahren Retail-Kliniken in Supermärkten oder Apotheken. Hier behandeln eigens ausgebildete Krankenschwestern oder Arzt-Assistenten leichte, akute Krankheiten, vom HNO-Bereich über Haut und Augen bis zum Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt. Politiker haben zu entsprechenden Dienstleistern eine recht ambivalente Beziehung: Gern gesehen sind die medizinische Leistungen – preisgünstig und an sieben Tagen pro Woche verfügbar. In der Tat zeigen Studien, dass etwa eine Konsultation bei Ohrenschmerzen in Retail-Klinken mit 59 US-Dollar zu Buche schlägt, während ein Besuch in der ärztlichen Sprechstunde 95 US-Dollar kostet. Beim Bereitschaftsdienst sind es 135 US-Dollar, und in klinischen Notfalleinrichtungen sogar 184 US-Dollar.
Günstig – aber auch gut?
Viele fragen sich jedoch, ob die Qualität von Walk-in-Kliniken Standards in Arztpraxen entspricht – eine Kritik, die nicht unbedingt auf Tatsachen beruht: Andrew J. Sussman, Präsident und Chief Operating Officer der MinuteClinic, zitiert eine ältere Studie aus den „Annals of Internal Medicine“. Den Untersuchungen zufolge ließen sich Behandlungen in Retail-Kliniken unter Qualitätskriterien mit Arztpraxen vergleichen, waren aber deutlich besser als in Notaufnahme-Abteilungen. „Zahlreiche internationalen Publikationen haben die hohe Qualität unter Beweis gestellt“, sagt Ron Liebkind, Chief Marketing Officer der finnischen Klinikkette Laastari. Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Christine K. Cassel, American Board of Internal Medicine , zeigt etliche Vorteile von Retail-Kliniken auf, und zwar hinsichtlich Zugang, Kosten, Qualität, Koordination, Pflege, Nachbeobachtung der Patienten und Kommunikation. Liebkind: „Ich denke, dass Fakten wichtiger sind als Spekulationen.“ Doch wer lässt sich in Retail-Kliniken behandeln?
Weiblich und wohlhabend
Mit der RAND-Studie nahmen Wissenschaftler entsprechende Zielgruppen unter die Lupe. Ihr Ergebnis: Frauen besuchen Retail-Kliniken häufiger als Männer. Sie gehören oft mittleren und hohen Einkommensklassen an, haben meist keine chronischen Erkrankungen und sind größtenteils in der Altersklasse von 18 bis 44 zu finden: berufliche Aufsteiger, die Öffnungszeiten an sieben Tagen pro Woche, oft von morgens bis spät abends, schätzen. Das Erfolgsmodell aus den Staaten hat mittlerweile auch Europa erreicht.
Gut versorgt im hohen Norden
Laastari (deutsch „Pflaster“), ein Gesundheitsdienstleister aus Finnland, hat sich ebenfalls auf die Behandlung von häufigen, akuten Krankheiten spezialisiert. Eine klare Win-Win-Situation: Retail-Kliniken versprechen „einfachen und leichten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für vielbeschäftigte, moderne Menschen“, so Liebkind. „Das Gesundheitssystem wird damit effektiver und kann sich auf künftige Herausforderungen wie die wachsende Zahl chronischer Erkrankungen konzentrieren.“ Bagatellfälle nehmen weniger Ressourcen von Ärzten oder Kliniken in Anspruch. Kunden erhalten zudem schnelle und persönliche Hilfe bei einfachen Erkrankungen.
Terminfrust – nein, danke
Eine Marktlücke, die etablierte Praxen momentan nur teilweise schließen: Gerade in den USA beschweren sich Patienten, dass sie kurzfristig kaum Termine zu bekämen und dann trotz vorheriger Vereinbarung lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssten. Nicht bei Retail-Kliniken: Diese sind meist an leicht zugänglichen Orten wie Einkaufszentren oder Apotheken zu finden, Parkmöglichkeiten inklusive. Patienten benötigen keinen Termin, sondern können sich von Montag bis Sonntag behandeln lassen, meist sind die Kliniken zehn bis zwölf Stunden pro Tag erreichbar. Hinzu kommen transparente Preise: Jede Konsultation schlägt pauschal mit 45 Euro zu Buche, Impfungen kosten 25 Euro. Die räumliche Nähe zu Apotheken garantiert, dass Verschreibungen umgehend eingelöst werden können – wichtig vor allem bei akuten Leiden.
Mit iPad und SMS zur Therapie
Retail-Kliniken wie Laastari setzen auf durchdachte Workflows und modernste Technik: Vor Ort nehmen Krankenschwestern die Patienten in Empfang und klären in einem zirka 15-minütigen Gespräch Symptome beziehungsweise Vorerkrankungen ab. Alle Daten wandern via iPad digital zur Überprüfung an einen Arzt. Falls Medikamente zu verschreiben sind, sendet der Kollege ein elektronisches Rezept online an die nächste Apotheke. Der Patient erhält eine SMS-Nachricht mit weiteren Informationen. „Wir legen Wert auf die Kommunikation zwischen allen Mitgliedern des Betreuungsteams“, unterstreicht Liebkind. „Das bedeutet, Top-Technologie zu nutzen und für unsere Patienten Aufzeichnungssysteme zu entwickeln, so dass alle Informationen genau und schnell abrufbar sind.“ Angestellte der Retail-Kliniken sind begeistert: „Unser System ist einfach toll. Ich hatte noch nie zuvor ein iPad benutzt“, erzählt Anne Kantola, Krankenschwester bei Laastari. „Aber gleich von Start weg war alles sehr intuitiv zu bedienen.“
Herausforderung für Programmierer
Für die iPad-Applikation war viel Hirnschmalz nötig: Benutzerfreundlich sollte sie sein, auch schnell und einfach zu bedienen, wobei Datenschutz beziehungsweise Ausfallsicherheit weitere Faktoren waren. Entwickler interviewten Ärzte und Krankenschwestern bei Laastari, um deren Anforderungen im Praxisalltag besser zu verstehen. Das Ergebnis war eine App, die wesentliche Prozesse wie Check-in, Diagnose und Medikation abbildet, inklusive möglicher Warnhinweise. Neben geschultem Personal ist die Technik damit ein wesentliches Rückgrat von Laastari. Derart ausgestattet, expandierte die Kette mittlerweile auch nach Schweden.
Das Netzwerk wächst
Eine Perspektive auch für Deutschland? „Wir können mit jeder Klinik zusammenarbeiten“, so Ron Liebkind. Dennoch müssen individuelle Bedürfnisse des jeweiligen Landes berücksichtigt werden – eine Mentalitätsfrage. In manchen Ländern werden Retail-Kliniken stärker akzeptiert, andere bevorzugen eher Hausärzte. Liebkinds Pläne: „Wir bauen eine internationale Klinik-Kette auf, die überall umgesetzt werden kann“ – vorausgesetzt, die Akzeptanz ist vorhanden.