Charakteristisch für die Parkinson-Erkrankung sind Bewegungsstörungen. Durch die Abbauprozesse im Gehirn werden aber auch oft die geistigen Leistungen beeinträchtigt. Neurologen entwickelten jetzt einen Risiko-Score, der den Verlauf kognitiver Funktionen vorhersagen soll.
Etwa 300.000 bis 400.000 Menschen in Deutschland sind von einer Parkinson-Erkrankung betroffen. Meist beginnt die Krankheit zwischen dem 50. und 79. Lebensjahr. Als Hauptsymptome gelten Störungen der Bewegungsfähigkeit: eine zunehmende Muskelstarre (Rigor), verlangsamte Bewegungen (Bradykinese) bis hin zur Bewegungslosigkeit (Akinese), Muskelzittern (Tremor) und eine Störung der aufrechten Körperhaltung (posturale Instabilität). Allerdings treten im Verlauf häufig weitere Symptome auf: Das können psychische Symptome wie eine erhöhte Depressivität, Störungen des sensorischen Systems, etwa eine Minderung des Geruchssinns (Hyposmie) und vegetative Symptome wie Störungen der Blasen- und der Magen-Darm-Funktionen sein. Viele Parkinson-Patienten leiden im Verlauf ihrer Krankheit auch zunehmend unter kognitiven Beeinträchtigungen. So entwickeln 24 bis 31 Prozent der Betroffenen im Lauf der Zeit eine Demenz. Selbst im Frühstadium lassen sich oft bereits kognitive Beeinträchtigungen beobachten: So betrug die Häufigkeit leichter kognitiver Beeinträchtigungen bei frisch diagnostizierten Patienten, die noch keine Medikamente nahmen, 14,8 Prozent – in einer vergleicharen Stichprobe Gesunder waren es nur 7 Prozent. Mit zunehmendem Lebensalter, zunehmendem Schweregrad und zunehmender Dauer der Erkrankung steigt die Wahrscheinlichkeit kognitiver Störungen deutlich an. Im Gegensatz zu einer Alzheimer-Demenz stehen beim Parkinson-Syndrom häufig nicht die Störungen des Gedächtnisses im Vordergrund. Stattdessen können eine Reihe unterschiedlicher kognitiver Fähigkeiten betroffen sein: DieAufmerksamkeit, das Lernen und der Abruf von Informationen, die visuell-räumliche Wahrnehmung, die sprachlichen Fähigkeiten und die so genannten exekutiven Funktionen, etwa das Setzen von Zielen und die Planung von Handlungen. Zudem lässt sich oft eine allgemeine kognitive Verlangsamung beobachten. Zum Beispiel fällt es den Betroffenen zunehmend schwerer, mehrere Reize gleichzeitig zu beachten oder ihren Alltag zu planen, sie verarbeiten Reize langsamer, erledigen Aufgaben langsamer und ihre Sprache verarmt zunehmend.
Nun hat ein Forscherteam um Clemens R. Scherzer von der Harvard Medical School und dem Brigham and Women’s Hospital in Boston (USA) in einer Längsschnittstudie ein Messinstrument entwickelt, das die zukünftige kognitive Beeinträchtigung bzw. die Entwicklung einer Demenz bei Parkinson-Patienten vorhersagen soll. In die Untersuchung wurden neun Studiengruppen mit Parkinson-Patienten aus Nordamerika und Europa einbezogen, bei denen zwischen 1986 und 2016 wiederholt Daten erhoben worden waren. Sechs Kohorten mit insgesamt 1.350 Patienten wurden zur Entwicklung des Vorhersage-Instruments verwendet, drei Kohorten mit insgesamt 1.132 Patienten dienten zur Überprüpfung und Replikation der Ergebnisse. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung zeigte keiner der Patienten kognitive Beeinträchtigungen. Orientiert an den Ergebnissen früherer Studien, bezogen die Forscher zur Entwicklung des Vorhersage-Werts folgende Daten ein: Das Alter bei Beginn der Erkrankung, das Geschlecht, das Vorliegen einer Depression und die Ausbildungsdauer (in Jahren). Weiterhin wurden der Ausgangswert im Mini Mental Status Test (MMST), die Ergebnisse aus drei motorischen Tests für Parkinson-Patienten (der Unified Parkinson's Disease Rating Scale II und III sowie der Hoehn & Yahr Skala für motorische Symptome) und Mutationen des Gens für β-Glucocerebrosidase (GBA) einbezogen. Solche Mutationen werden mit einem erhöhten Risiko für die Parkinson-Erkrankung in Verbindung gebracht. Zwei Maße – die Ergebnisse der Unified Parkinson's Disease Rating Scale II und der Hoehn & Yahr Skala für motorische Symptome – hatten keinen zusätzlichen Vorhersagewert und wurden deshalb nicht weiter berücksichtigt. Die übrigen sieben Faktoren wurden mit unterschiedlicher Gewichtung in die Berechnung eines kognitiven Risiko-Scores einbezogen, der zwischen 0 und 1 liegen kann.
Der so entwickelte Risiko-Wert sagte die kognitiven Beeinträchtigungen in den ersten zehn Jahren nach Diagnosestellung mit einer Genauigkeit von 85 Prozent vorher – und die Entwicklung einer Demenz in diesem Zeitraum mit einer Genauigkeit von 88 Prozent. „Mithilfe unseres Risiko-Scores könnte die Vorhersage zukünftiger kognitiver Leistungen bei Parkinson-Patienten verbessert werden“, erläutert Scherzer. „Maßnahmen zur Verbesserung oder Stabilisierung der kognitiver Fähigkeiten, etwa Medikamente oder kognitive Trainings, könnten gezielter entwickelt und überprüft werden, wenn nur Patienten mit hohem Risiko für eine Demenz in die Studien einbezogen werden.“ Auf diese Weise könne die Größe der Stichproben reduziert und die Chancen, erfolgreiche Behandlungsansätze zu entdecken, deutlich erhöht werden.
Wie bewertet Günter Höglinger, Leiter der Ambulanz für Parkinson-Syndrome am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, den Risiko-Score: „Die Aspekte, die in den Vorhersage-Wert einfließen, sind bekannte Risikofaktoren für Demenz“, sagt er. „Bisher ist mir kein ähnlicher Risiko-Score bekannt.“ Aus seiner Sicht werde sich der neu entwickelte Risiko-Score eher nicht in der klinischen Routine etablieren, er könnte aber zu Forschungszwecken nützlich sein. Auch wenn GBA-Mutationen nicht in die Auswertung einbezogen wurden, war die Vorhersage-Genauigkeit noch sehr hoch, berichten Scherzer und sein Team. Somit sei die Berechnung des Risiko-Scores auch allein mit klinischen Daten, ohne aufwändige genetische Untersuchungen möglich. Eine Möglichkeit zur Berechnung des Risiko-Scores haben die Forscher bereits für andere Wisssenschaflter online zur Verfügung gestellt. Um den Vorhersage-Algorithums in der klinischen Praxis einzusetzen, müsse er jedoch noch in weiteren prospektiven Untersuchungen überprüft werden, betonen Scherzer und sein Team.
Die Erklärung, warum es bei der Parkinson-Krankheit neben motorischen Symptomen auch zu kognitiven Störungen kommt, liegt in den Nervenzellen des Gehirns: Verschiedene Untersuchungen belegen, dass es bei Parkinson zum Absterben von Nervenzellen in tiefer gelegenen Regionen des Gehirns kommt – vor allem in den Basalganglien, die eine wichtige Rolle bei der Steuerung von Bewegungen spielen. Die Zerstörung der Nervenzellen führt zu einem Mangel des Botenstoffs Dopamin, wodurch die motorische Aktivierung gestört ist. Gleichzeitig kommt es zu Veränderungen bei anderen Botenstoffen im Gehirn: insbesondere von Acetylcholin, aber auch von Serotonin und Noradrenalin. Mehrere Studien haben sich nun damit beschäftigt, ob ein Zusammenhang zwischen bestimmten Störungen der Bewegungsfähigkeit und bestimmten kognitiven Beeinträchtigungen besteht. Dabei wurde ein Zusammenhang zwischen einer verlangsamten Bewegungsfähigkeit und leichten kognitiven Beeinträchtigungen bzw. unflexibem Denken beobachtet, während bei Patienten, bei denen ein Tremor im Vordergrund stand, kaum kognitive Beeinträchtigungen auftraten. In einer aktuellen Studie untersuchte ein Forscherteam um Jian Wang vom Huashan Hospital in China bei 96 chinesischen Parkinson-Patienten, wie bestimmte motorische Symptome mit verschiedenen Aspekten der kognitiven Leistungsfähigkeit zusammenhängen. Die Wissenschaftler stellten fest, dass Störungen der Aufmerksamkeit und der exekutiven Funktionen (also der Planungsfähigkeit und Handlungssteuerung) mit verlangsamten Bewegungen und Muskelsteifigkeit assoziiert waren, während Störungen des visuell-räumlichen Fähigkeiten mit Tremor, aber auch mit verlangsamten Bewegungen zusammenhingen.
Die Ergebnisse könnten ein Hinweis darauf sein, dass es verschiedene Typen von Parkinson-Erkrankungen gibt, bei denen unterschiedliche Netzwerke im Gehirn betroffen sind. So könnten verlangsamte Bewegungen und unflexibes Denken mit Störungen in einem bestimmten dopaminergen Netzwerk im Gehirn zusammenhängen, während bei Tremor ein anderes Netzwerk eine Rolle spielen könnte. Untersuchungen belegen bereits, dass der Dopaminmangel in den Basalganglien und in Netzwerken, die die Basalganglien mit dem Stirnhirn verbinden, auch bei Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen eine Rolle spielt. Die Forschergruppe um Wang konnte zudem zeigen, dass die kognitiven Auffälligkeiten von Parkinson-Patienten mit einer verminderten Aktivität im Stirn- und Schläfenlappen des Gehirns zusammenhängen. „Zukünftige Studien sollten den Zusammenhang zwischen motorischen und kognitiven Funktionen über einen längeren Zeitraum untersuchen“, betonen Wang und sein Team. „Solche Ergebnisse könnten dazu beitragen, den Verlauf der Parkinson-Erkrankung besser vorherzusagen. Zudem könnten sie die Entwicklung neuer Behandlungsmögichkeiten zur Linderung der Symptome erleichtern.“