Hochleistungssensor am Handy, neue Verfahren der Bildgebung und Datenspeicherung: Die Medizin wird virtuell. Vitalparameter von Patienten lassen sich engmaschig überwachen, und im OP schärft Kollege Computer die Sinne von Chirurgen.
„Wie geht es Ihnen heute“ – eine Frage, die vielleicht schon bald überflüssig wird: Moderne Smartphones eignen sich als zentrale Schnittstelle, um die Herzfrequenz zu überwachen, ein Bewegungspensum zu überprüfen oder kritisch auf die schlechte Körperhaltung hinzuweisen.
Meine Daten – meine Gesundheit
Laut Gary Wolf, Mitbegründer der „Quantified Self“-Bewegung, erlauben mobile Anwendungen und Always-on-Gadgets neben üblichen Vitalparametern auch eine Untersuchung der eigenen Stimmung, der Ernährung, des Tag-Nacht-Rhythmus oder der Luftqualität – praktisch aller quantifizierbaren Eigenschaften. Wolfs Fazit: „Es ist faszinierend, welchen Wert persönliche Analytik für uns haben kann“. Er präsentierte seine Vision Ende 2011 im Rahmen des Zukunftsforums „TEDXAmsterdam“ – und stieß auf große Resonanz. Dahinter steckt ein Paradigmenwechsel weg von der Therapie, hin zur Prophylaxe: Daten ständig sammeln, Daten ständig auswerten und eingreifen, bevor mögliche Erkrankungen auftreten. Über Cloud-Computing ist Rechenleistung jederzeit verfügbar – ein Online-Zugang genügt. Und Patienten wiederum tauschen im Web immense Datensätze aus - „Menschen kommen hier zusammen und teilen ihr Wissen“, sagt Wolf.
Zeit ist Geld – für alle Beteiligten
Große Firmen wie GE, Siemens oder Philips hingegen arbeiten viel profaner an Lösungen zur Optimierung des Patienten- und Workflow-Managements: In der Klinik buchen virtuelle Assistenten Arzttermine, planen Untersuchungen, koordinieren die OP-Belegung und tragen alle Daten in elektronische Patientenakten ein. Philips Healthcare setzt bei Heimpflegediensten auf ähnliche Tools. Dazu CEO Steve Rusckowski: „Wir sind überzeugt davon, dass der Bedarf, chronische Erkrankungen einer alternden Bevölkerung besser zu behandeln, verbunden mit gesundheitsökonomischen Erwägungen, die Nachfrage nach Pflegedienstleistungen erhöhen wird, die zu Hause erbracht werden.“ Ob ambulant oder stationär – die Online-Planungshilfe ist groß im Kommen.
Alle schlafen – Watson wacht
In Kliniken wiederum garantiert Hightech eine lückenlose Überwachung kritischer Patienten. Das Prinzip haben kanadische Ärzte bereits erfolgreich auf Intensivstationen umgesetzt: Supercomputer wie IBMs „Watson“ werten Datenstrom kontinuierlich aus, engmaschiger als Pflegepersonal. Sollten sich Körpertemperatur, Blutdruck oder Sauerstoffsättigung verändern, weit bevor es zu kritischen Situationen kommt, erstatten intelligente Programme Bericht. Eine Neugeborenenstation konnte so ihren Antibiotika-Verbrauch drastisch senken – Daten lieferten eben bessere Entscheidungshilfen hinsichtlich drohender Infektionen. Und mit weiteren Systemen verschmelzen Untersuchung und Behandlung zur Einheit.
Diagnostik – oder auch gleich Therapie?
Bildgebende Verfahren liefern immer detailgetreuere Aufnahmen des menschlichen Körpers. Jetzt kommen neue Möglichkeiten wie die therapeutische Diagnostik mit hinzu: Finden Kollegen etwa während einer Sonographie Myome, schalten sie per Knopfdruck auf den Zerstörungsmodus um: Hochintensiv-fokussierter Ultraschall (HIFU) bildet zusammen mit Magnetresonanz-Tomographien eine faszinierende Synergie. Ärzte verfolgen in Echtzeit, wie gebündelte elektromagnetische Strahlung Gewebe zerstört – effektiv, aber schonend für gesunde Strukturen. Mit HIFU eröffnen sich auch neue Wege der Tumortherapie: Potente, leider recht unselektive Zytostatika lassen sich mit Phospholipiden zu kleinen Vesikeln verpacken. Diese zirkulieren im Blut von Patienten und setzen ihre tödliche Fracht nur frei, wo HIFU unter MRT-Kontrolle deren Membran zerstört: direkt am Tumor. Lokal ist viel Zellgift verfügbar, nur ein paar Zentimeter weiter sinkt die Konzentration durch Verdünnungseffekte stark ab und Nebenwirkungen werden zur Nebensache.
Blut-Hirn-Schranke ausgeschaltet
Weitere Möglichkeiten bietet HIFU bei Gehirnerkrankungen. Bis dato scheitern viele Wirkstoffe an der Blut-Hirn-Schranke (BHS), einer biologisch sinnvollen Barriere, die Stoffwechselprodukte oder Pathogene abblockt, aber auch Medikamente. Um Therapeutika an den Ort des Geschehens zu bringen, experimentierten Neurologen schon früh mit Ultraschall. Während erste Tierversuche zur Zerstörung biologischer Strukturen führten, gelang mittlerweile ein Durchbruch: Injizierten Wissenschaftler kleine Mikrobläschen aus fluorierten Kohlenwasserstoffen plus Albumin-Hülle und griffen erst dann zum Ultraschall, jedoch mit geringerer Leistung als anfangs, öffnete sich durch lokale Scherkräfte die Barriere. Medikamente wie das Chemotherapeutikum Doxorubicin konnten damit passieren - etwa bei Mäusen mit Glioblastom. Nach dem Eingriff regenerierte sich die BHS, als wäre nichts geschehen.
Stammzellen unter verschärfter Beobachtung
Von diagnostischen Innovationen erhoffen sich Forscher auch neue Impulse für regenerative Therapien. Hier kommt die Magnetpartikeltomographie (Magnetic Partikel Imaging) ins Spiel: Stammzellen, an deren Oberfläche Eisenoxidpartikel verankert wurden, lassen sich auf ihrem Weg durch den Körper verfolgen. Ersetzen sie gezielt zerstörtes Herzmuskelgewebe oder wachsen sie andernorts zu Krebszellen heran? Fragen, die sich bald live klären lassen. Die Technik hat Potenzial – Philips forscht in einem neuen Konsortium mit 10,6 Millionen Euro Förderung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Aus ärztlicher Sicht könnten magnetische Nanopartikel zudem helfen, körpereigene Strukturen mit feinster Auflösung darzustellen. Bis zur Praxisreife werden alle Beteiligten jedoch viel Geduld benötigen. Wesentlich weiter sind Wissenschaftler bei einem Nachweisverfahren, das auf Fluoreszenzstrahlung setzt.
Das dritte Auge im OP
Bei Tumorerkrankungen sind Chirurgen auf ihre Sinne angewiesen. Bleiben kleine Tumorinseln oder auch Gewebereste aber unentdeckt, entstehen Rezidive. Um Eierstockkrebs - eine der häufigsten malignen Erkrankungen bei Frauen - restlos zu entfernen, erhielten Patientinnen im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit präoperativ Folsäure, die mit einem Fluoreszenzfarbstoff markiert wurde. Aufgrund eines geeigneten Rezeptors nehmen Tumorzellen diesen Marker begierig auf. Ist der Bauchraum dann geöffnet, kommt multispektrale Fluoreszenztechnik zum Einsatz: Ein Laser bestrahlt das OP-Gebiet und Kameras detektieren Strahlung verschiedener Wellenlänge. Auf dem Monitor erscheint die bekannte Darstellung, überlagert von fluoreszierenden Flecken: Krebszellen. Damit gelang es, bei acht von neun Patientinnen Tumorreste zu entfernen, die ansonsten unentdeckt geblieben wären. Und mit markierten Antikörpern gegen den Gefäß-Wachstumsfaktor (Vascular Endothelial Growth Factor) beziehungsweise den epithelialen Wachstumsfaktor (HER2/neu) wird die neue Detektion auch für andere Krebserkrankungen interessant.
Konkurrenzkampf am Patientenbett?
Ganz klar: Momentan sind etliche Technologien in der Entwicklungsphase. Manche binden Laien stärker in ihre Verantwortung ein. Als mündige, aufgeklärte Patienten begleiten sie ihre Therapie aktiv mit und verbessern deren Qualität. Ob Computer und Co. die Arbeit von Kollegen ersetzen wird – man darf gespannt sein.