Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie hat ihre Herzinsuffizienz-Leitlinie aktualisiert und dabei eine ganze Reihe von Neuerungen untergebracht. DocCheck sprach mit Professor Michael Böhm vom Universitätsklinikum des Saarlandes, einem der Verfasser der neuen Leitlinie, über die Kernpunkte und die Bedeutung der Leitlinie für Deutschland.
DocCheck: Warum wurde die ESC-Leitlinie zur Herzinsuffizienz gerade jetzt aktualisiert? Prof. Böhm: Grundsätzlich ist es so, dass Leitlinien in gewissen Zeitabständen verändert werden müssen. Dies liegt an einer veränderten Bewertung etablierter Therapiekonzepte, allerdings auch am Erscheinen neuer Studien und der Generierung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Eine Leitlinie hat ein normales "Verfallsdatum" von zwei bis vier Jahren. Es war also an der Zeit.
DocCheck: Die Empfehlung für eine medikamentöse Behandlung mit Aldosteron-Antagonisten werden deutlich ausgeweitet. Welche Patienten sollten ein solches Präparat erhalten? Prof. Böhm: Die Ausweitung der Empfehlungen für Aldosteronantagonisten war durch den Abschluss und das Erscheinen der EMPHASIS-HF-Studie erforderlich. Diese Studie hat die offene Erkenntnislücke zur prognostisch günstigen Wirkung von Mineralocorticoidrezeptorantagonisten bei stabiler Herzinsuffizienz geschlossen. Bis dahin lagen nur Daten für Patienten mit akuter Herzinsuffizienz nach großen Myokardinfarkten (EPHESUS, Eplerenon) und bei Patienten mit hochgradiger Herzinsuffizienz (RALES, Spironolacton) vor. Dementsprechend lautet die neue Empfehlung, dass alle Patienten mit eingeschränkter systolischer Pumpfunktion im Schweregradstadium NYHA II bis NYHA IV und Patienten nach akutem Myokardinfarkt mit eingeschränkter Pumpfunktion sowie Auftreten einer Herzinsuffizienzepisode einen Mineralocorticoidrezeptorantagonisten erhalten sollten.
DocCheck: Werden beide verfügbaren Aldosteronantagonisten gleich behandelt? Prof. Böhm: Beide verfügbare Aldosteronantagonisten werden gleich behandelt. Bei schwerer Herzinsuffizienz wurden in der RALES-Studie die Daten mit Spironolacton erhoben, wobei im Rest des Kontinuums Eplerenon getestet wurde. Zahlreiche Experten stellen sich aber auf den Standpunkt, dass die entsprechende Substanz in der Indikation angewandt werden sollte, in der die Studien vorliegen. Hier haben behandelnde Ärzte also absolute Freiheit.
DocCheck: Erstmals taucht der If-Kanal-Blocker Ivabradin in der ESC-Leitlinie auf. Wer genau sollte dieses Medikament erhalten? Prof. Böhm: Eine hohe Ruheherzfrequenz ist ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse. Da lag es nahe, eine Substanz zu untersuchen, die ausschließlich die Herzfrequenz reduziert. Dies ist in der SHIFT-Studie durchgeführt worden. Die SHIFT-Studie hat gezeigt, dass Patienten im Sinusrhythmus mit einer Herzfrequenz größer/gleich 70 Schläge pro Minute von einer Therapie mit Ivabradin profitieren. Es kommt zu einer 18 %igen Abnahme von kardiovaskulären Todesfällen und Herzinsuffizienz-bedingten Krankenhausaufnahmen. Somit empfiehlt die Leitlinie Patienten mit einer Herzfrequenz größer 70 Schläge pro Minute zu behandeln.
DocCheck: Die SHIFT-Studie wurde unter anderem wegen einer suboptimalen Betablockertherapie kritisiert. Reicht diese eine Studie für eine Aufnahme in die Leitlinie? Prof. Böhm: In der SHIFT-Studie hatten nicht alle Patienten eine Maximaldosis eines Betablockers. Dies wurde in der Praxis noch nie erreicht, da Maximaldosen kaum toleriert werden. Die Betablockertherapie in der SHIFT-Studie war tatsächlich, gemessen an den Daten aus anderen Studien sowie aus Registern zur Herzinsuffizienz, eindeutig optimal und sicherlich besser als in unserer klinischen Praxis. Insofern ist bei eingeschränkter Tolerabilität von Betablockern oder unter Betablockertherapie, die so gut wie möglich ausdosiert werden sollte, eine Therapie mit Ivabradin indiziert. Die Datenlage zur Aufnahme in die Leitlinien ist eindeutig gegeben.
DocCheck: Die Zulassung für Ivabradin in Europa beginnt bei 75 Schlägen pro Minute. Die ESC-Leitlinie zieht die Grenze bei 70 Schlägen. Wonach soll der Arzt sich richten? Prof. Böhm: Hier ist in der Tat ein Problem aufgetreten. Die Evidenz, an der sich eine Leitlinie orientiert, liefern randomisierte klinische Studien, nicht Zulassungsentscheidungen. Die Evidenz wurde bei Patienten mit Herzinsuffizienz bei einer Sinusfrequenz von größer/gleich 70 Schlägen pro Minute generiert. Die EMEA hat in ihrem Zulassungsverfahren eine Subanalyse bei 75 Schlägen pro Minute angefordert. Streng wissenschaftlich gesehen ist dies nicht optimal, da es sich um eine retrospektiv festgelegte Subgruppe handelt. Wenn man sich diesem wissenschaftlich suboptimalen Vorgehen anschließt, so zeigt sich, dass auch bei Patienten mit Frequenzen kleiner 75 Schlägen pro Minute und einer Abnahme der Herzfrequenz um mehr als 10 Schläge die Hospitalisierung für Herzinsuffizienz reduziert würde. Dieses wäre nach einer leitliniengerechten Behandlung möglich, liegt jedoch außerhalb der Zulassung. Da Ärzte immer noch Therapiefreiheit haben, kann dies jeder nach seinem Gusto und nach individueller Abwägung nach Untersuchung des Patienten entscheiden.
DocCheck: Welche Änderung bringt die Leitlinie hinsichtlich der Indikationsstellung für ICD- und CRT-Devices? Prof. Böhm: Bezüglich der Devicetherapie gab es die Erkenntnislücke, ob eine zusätzliche CRT-Therapie bei Patienten mit einer Ejektionsfraktion von kleiner als 35 % das Überleben oder nur die Symptomatik verbessern. Die RAFT-Studie hat einen eindeutigen Überlebensvorteil gezeigt, wenn man Patienten mit systolischer Dysfunktion mit einem ICD plus CRT-System versorgt. Möglicherweise wird die Progredienz des linksventrikulären Remodelings durch frühe biventrikuläre Stimulation günstig beeinflusst. Dementsprechend dürften in Zukunft mehr kombinierte Systeme implantiert werden.
DocCheck: Gibt es noch andere relevante Veränderungen? Prof. Böhm: Lesenswert finde ich die Abschnitte zu den Biomarkern. Weiterhin werden Assist-Systeme bei terminaler Herzinsuffizienz jetzt etwas früher empfohlen. Auch eine Studie zur symptomatischen Verbesserung schwer herzinsuffizienter Patienten mit funktionellem oder absolutem Eisenmangel durch eine Eisentherapie hat Eingang in die Leitlinien gefunden. Hier wird eine vorsichtige Empfehlung zur Symptomverbesserung ausgesprochen.
DocCheck: Wie wird sich die neue ESC-Leitlinie auf die deutschen Leitlinien zur Herzinsuffizienz auswirken? Prof. Böhm: Die ESC-Leitlinie wird von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie/Herz- und Kreislaufforschung übernommen werden. Wir können nur hoffen, dass sich auch die nationale Versorgungsleitlinie den evidenzbasierten Empfehlungen in vollem Umfang anschließt.