Regressansprüche und Haftungsfragen: Indikationsüberschreitende Anwendungen gelten als vermintes Territorium. Es gibt Bereiche, in denen zugelassene Pharmaka die Ausnahme sind. Aber: Wer haftet im Fall der Fälle?
Seit Jahren werden neue Arzneimittel in einem mehrstufigen Verfahren eingehend geprüft. Dazu gehören vorklinische und klinischen Studien: Wissenschaftler untersuchen die Wirkung, aber auch Nebenwirkungen an Tieren, an Probanden sowie bei Erfolg an Patienten. Liegen entsprechende Daten vor, können Arzneimittelhersteller einen Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA oder beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stellen, und zwar für bestimmte Indikationen. Die klinische Realität sieht oftmals anders aus.
Rettungsanker Off-Label-Use
Wenden Ärzte ein Präparat jenseits zugelassener Krankheitsbilder an oder modifizieren sie die Dosierung außerhalb der vorgesehenen Grenzen, liegt ein Off-Label-Use vor. Das betrifft auch Änderungen beim Patientenkollektiv oder bei der Galenik. Besonders häufig sind Therapien jenseits der Zulassung bei seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases). Auch Kinder sind davor nicht gefeit: Je jünger Filius oder Filia und je ausgefallener die Krankheit, desto unwahrscheinlicher sind zugelassene Medikamente. Antje-Katrin Heinemann und Anica Tieben schätzen, dass auf Kinderintensivstationen der Off-Label-Anteil bei bis zu 90 Prozent liegt. In der Erwachsenen-Onkologie sind rund 50 Prozent aller Therapien jenseits der Zulassung. Auch bei HIV beziehungsweise AIDS sowie bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen ist die Off-Label-Anwendung üblich. Rückendeckung vom Gesetzgeber brauchen Kollegen aber nicht zu erwarten.
Nicht ohne meinen Anwalt
Weder das fünfte Sozialgesetzbuch noch das Arzneimittelgesetz stecken einen rechtlichen Rahmen für Off-Label-Therapien ab. Laut Bundesgerichtshof müsse vor allem „der gute Standard ärztlichen Heilversuchshandelns eingehalten werden“, erklärt Rechtanwalt Jan Gregor Steenberg, Gehrlein & Kollegen, gegenüber DocCheck. Das bedeutet zuallererst fehlende Alternativen oder gescheiterte Behandlungsversuche im Rahmen etablierter Therapien. Eine Anwendung jenseits der Zulassung sollten Kollegen dennoch gewissenhaft vorbereiten – medizinische Fachgesellschaften raten zur Literaturrecherche: Liegen methodisch gute Studien mit positiver Nutzen-Risiko-Abwägung vor, ist die Off-Label-Therapie mit vergleichsweise geringen Gefahren verbunden. Firmen haften allerdings nur bei indikationsgemäßer Anwendung. Kollegen, die ein Arzneimittel außerhalb der Zulassung anwenden oder eine vorgesehene Dosierung ändern, haben Schäden möglicherweise selbst zu tragen. Einige Vorgaben, insbesondere hinsichtlich der Aufklärung, sind in der präklinischen Notfallmedizin anders zu bewerten als im klinischen Alltagsbetrieb.
Information vor Injektion
Meist ist es im Rahmen stationärer Therapien leicht möglich, Patienten über mögliche Gefahren aufzuklären und dies hinreichend zu dokumentieren. Steenberg: „Der BGH hat in einem Urteil entschieden, dass speziell bei der Off-Label-Use im individuellen Heilversuch ein Hinweis auf mögliche unbekannte Risiken erfolgen muss.“ Während in der Klinik meist genügend Zeit bleibt und Patienten meist ansprechbar sind, tritt die Aufklärungspflicht im Rahmen einer präklinischen Notfallbehandlung in den Hintergrund – eine Aufklärung ist in vielen Fällen unmöglich. Laut Karsten Engelke, Rettungssanitäter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaften der Uni Bremen, kommt es gerade bei der notdienstlichen Arbeit nicht selten zu Off-Label-Use. Nifedipin darf zur Senkung des Blutdrucks eingesetzt werden, jedoch nicht als Wehenhemmer. Und Nitrolingual-Spray, bei akuter Angina pectoris indiziert, hat keine Zulassung als Antihypertensivum, wird aber gern zu diesem Zweck eingesetzt.
Aus Mitleid therapiert
Bei extrem seltenen beziehungsweise lebensbedrohlichen Erkrankungen unternehmen Ärzte oft einen Therapieversuch mit Arzneimitteln oder Impfstoffen, die überhaupt keine Zulassung besitzen – bekannt als „Compassionate Use“, sprich „Verwendung aus Mitleid“. Ein spektakulärer Fall ereignete sich vor drei Jahren im Hamburg: Damals verletzte sich eine Ebola-Forscherin im Hochsicherheitslabor an einer Spritze. Fatal: Bei Ebola sterben neun von zehn Patienten. Deshalb wagten Ärzte am Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf einen spektakulären Versuch. Sie verabreichten einen völlig neuen, gentechnisch hergestellten Impfstoff. Die Vakzine war nicht einmal am Menschen getestet, zeigte aber bei Affen gute Ergebnisse. Die Forscherin erkrankte nicht – ob der Impfstoff half oder ob keine Viren in ihren Kreislauf gelangt waren, ließ sich nicht rekonstruieren. Soviel zur medizinischen Forschung, Juristen beschäftigen sich mit diffizilen Haftungsfragen.
Kopf in der Schlinge
„Wenn eine delegierbare Leistung auf nichtärztliches Personal übertragen wird, und wir gehen nun einmal davon aus, dass das Personal die Maßnahme beherrscht, so haftet der Vertragspartner des Patienten für sein Handeln gemäß Paragraph 278 BGB – auch in Bezug auf Schmerzensgeld nach Paragraph 253 Absatz 2 BGB“, erklärt der Rechtanwalt Jan Gregor Steenberg. Somit haben Ärzte die grundsätzliche Verantwortung. „Der Durchführende hat im Rahmen des Vertrauensgrundsatzes auch eine eigene Sorgfaltspflicht, deren Verletzung eine Haftung unter den Gesichtspunkten der unerlaubten Handlung begründen kann.“ Dieser Regress tritt neben die Haftung des Arztes. Steenberg: „Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass den Arzt die Haupthaftung aufgrund der Therapieindikation trifft. Grundsätzlich kann auch die Medikamentengabe in der Off-Label-Usage delegiert werden, wobei dann weiterhin die Durchführungsverantwortung beim medizinischen Assistenzpersonal liegt.“
Kostenübernahme fraglich
Bleibt ein essentieller Punkt zu klären: das liebe Geld. Gesetzliche Krankenversicherungen vertraten in der Vergangenheit den Standpunkt, ohne Zulassung gäbe es auch keine Kostenübernahme. Als Meilenstein zu Erstattungsfragen gilt das viel zitierte „Nikolausurteil“ des Bundesverfassungsgerichts: Am 6. Dezember 2005, dem Nikolaustag, entschieden Richter, es sei nicht vereinbar, einen gesetzlich Versicherten, für dessen lebensbedrohliche Erkrankung keine allgemein anerkannte, medizinischen Standards entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, von Leistungen auszuschließen. Einzige Voraussetzung: Die Off-label-Therapie muss – zumindest minimale – Aussicht auf Erfolg haben. Bezahlt werden aber dennoch nur Kosten für das grundlegende Leiden. Diese Leitsätze wurden Anfang 2012 auch in den neuen Paragraphen 2, Absatz 1a, des fünften Sozialgesetzbuchs aufgenommen. Langfristig sind Maßnahmen wie ermäßigte Gebühren beziehungsweise eine befristete Marktexklusivität für Orphan Drugs und Zulassungen für Kinder der bessere Weg.