Körperliche Bewegung gilt in Sachen Herz-Kreislauf-Prävention bisher als das Nonplusultra. Und dennoch: Bei mehr als jedem zehnten Menschen verschlechtern sich einzelne kardiovaskuläre Risikofaktoren bei Aufnahme regelmäßiger körperlicher Bewegung. Warum?
In Zeiten, in denen die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung große Teile ihrer Lebenszeit in Bürostühlen verbringt, wundert es nicht, dass körperliche Ertüchtigung von vielen Menschen geradezu als Allheilmittel angesehen wird. Und aus medizinischer Sicht ist das ja auch nicht so verkehrt. Positive Effekte regelmäßigen Sports oder zumindest regelmäßiger Bewegung sind vielfach belegt. Beispiel Diabetes: In Studien wie der finnischen Diabetes Prevention Study oder dem US-amerikanischen Diabetes Prevention Program war die Diabetesinzidenz bei regelmäßiger körperlicher Betätigung um mehr als die Hälfte geringer. In der Framingham-Kohorte korreliert die Lebenserwartung über weite Strecken mit dem Ausmaß körperlicher Aktivität. Bei mehreren Tumorerkrankungen wurden günstige Effekte von Sport als Begleitung der Antitumortherapie beschrieben. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Gibt es Non-Responder auf körperliche Bewegung?
Entsprechend hat die Empfehlung „pro körperliche Aktivität“ längst Eingang in unterschiedlichste Leitlinien gefunden. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft bezeichnet körperliche Aktivität in ihrer Leitlinie zu körperlicher Aktivität und Diabetes mellitus als „kausale Therapie“ bei Patienten mit bei metabolischem Syndrom, gestörter Glukosetoleranz und Typ 2-Diabetes. Es gebe ausreichend Evidenz, dass Sport die Diabetesentwicklung verzögere oder aufhalte und die kardiovaskuläre Mortalität senke. In der Hypertonie-Leitlinie der Hochdruckliga klingt das ähnlich: „Patienten mit hohem Blutdruck [sollten] zu regelmäßiger körperlicher Aktivität ermutigt werden. (…) Diese Aktivitäten sollten drei bis vier Mal pro Woche über 30 bis 45 Minuten durchgeführt werden.“
Große Einigkeit von klinischer Seite also. Auf die Mechanismen, über die körperliche Bewegung ihren Nutzen generiert, wird in diesen Kontexten allerdings seltener eingegangen. Als Konsens gilt, dass körperliche Bewegung günstig auf eine ganze Latte von kardiovaskulären Risikofaktoren wirkt. Sie senkt den Blutdruck, steigert das HDL-Cholesterin, senkt den Nüchternblutzucker, senkt die Triglyceride und anderes mehr. Das führt dann zu der für das Patientengespräch durchaus relevanten These, dass körperliche Aktivität aufgrund dieser breiten Effekte letztlich jedem nutze und daher pauschal empfohlen werden könne. Aber ist das so? Oder gibt es auch bei der körperlichen Bewegung Responder und Non-Responder, vielleicht sogar Patienten mit paradoxer Reaktion?
Vorsicht Nebenwirkungen!
Eine vor wenigen Tagen von Dr. Claude Bouchard und Kollegen vom Pennington Biomedical Research Center in Baton Rouge, Kalifornien, in der Zeitschrift PLoS One (2012; 7(5):e37887) veröffentlichte Arbeit wirbt zumindest für eine etwas differenziertere Herangehensweise an das Thema Sport und Prävention. Die Wissenschaftler werteten die Ergebnisse von sechs Studien aus, in denen körperliche Betätigung bei insgesamt 1687 Probanden explizit und in gut kontrolliertem Design untersucht wurde. Sie konnten zeigen, dass sich bei 8 bis 13 Prozent der Probanden zumindest einzelne kardiovaskuläre Risikofaktoren als Folge der körperlichen Betätigung in die jeweils ungünstige Richtung veränderten. Bei 7 Prozent der Probanden verschlechterten sich zwei oder mehr Risikofaktoren.
Um es anschaulich zu machen und die Analogie zur Pharmakotherapie beizubehalten, sprechen die Forscher von den möglichen „Nebenwirkungen“ körperlicher Aktivität, die einen Teil der Probanden betreffen. Im Einzelnen sank der HDL-C-Wert in 13,3 Prozent der Fälle ab, die Triglyceride stiegen in 10,4 Prozent der Fälle, der systolische Blutdruck stieg in 12,2 Prozent der Fälle und die Insulinspiegel veränderten sich bei 8,4 Prozent der Probanden in ungünstiger Richtung. Bouchard und seine Kollegen hüten sich davor, daraus irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen: „Die klinische Relevanz dieser Befunde ist offen“, schreiben sie ausdrücklich. Sie weisen allerdings schon darauf hin, dass Patienten (und ihre Ärzte) nicht erwarten dürfen, dass sämtliche in der Literatur beschriebenen günstigen Effekte körperlicher Bewegung im Einzelfall auch wirklich bei ihnen eintreten.
Prävention à la carte statt Prävention à la PROCAM?
Was diese Arbeit suggeriert ist letztlich eine individualisierte Prävention, bei der Empfehlungen zu Arzneimitteln, Ernährung aber eben auch zu körperlicher Bewegung auf den individuellen Patienten zugeschnitten werden, und nicht nur auf sein Profil klassischer Risikofaktoren. Dafür müssten jene Faktoren identifiziert werden, die ungünstige Reaktionen auf beispielsweise bestimmte Arten der körperlichen Betätigung vorhersagen. Die „üblichen Verdächtigen“ sind hier bestimmte genetische und epigenetische Konstellationen, die freilich erst einmal genauer charakterisiert werden müssten.
Erste Daten dazu gibt es. So haben finnische Wissenschaftler im Rahmen der finnischen Diabetes Prevention Study Polymorphismen im TNF- und im Interleukin 6-Gen beschrieben, die einen Einfluss auf die antiinflammatorischen Effekte körperlicher Bewegung und damit möglicherweise auf deren präventives Potenzial haben. Die Macher der derzeit rekrutierenden Prädiabetes-Interventions-Studie des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung e.V. denken ebenfalls in diese Richtung und wollen individualisierte Präventionsstrategien entwickeln, die im Zusammenhang mit körperlicher Bewegung (auch) genetische Faktoren berücksichtigen.