Aspirin, Ibuprofen, Immodium - Namen, denen wir vertrauen. Baldrian, Hopfen und Johanniskraut - für viele Quacksalberei. Wir geben euch einen Einblick in die Medizingeschichte und betrachten die kritische Denkweise gegenüber traditionsreichen Heilmitteln.
Die Kenntnisse der historischen Entwicklungen in der Medizin reichen über viele Jahrhunderte hinweg. Wie auch in anderen Wissenschaften und Bereichen, ist es genauso für uns Mediziner wichtig, einen Überblick über unsere fachliche Vergangenheit zu haben und vor allem die Erkenntnisse unserer Vorfahren nicht einfach als verstaubtes Wissen abzuhaken. Vergangen muss nämlich nicht immer veraltet heißen. Warum also nicht stattdessen die Erfahrung unserer Vorgänger nutzen und von den alten Heilweisen profitieren und diese schätzen und pflegen? Viele Praktiken und Kenntnisse nutzen wir – ohne es zu wissen – heute noch in der Praxis.
Die Aktualität der Geschichte zeigt sich bereits an folgendem kleinen Beispiel: Zwei unserer wichtigsten medizinischen Vorfahren sind wohl Hippokrates von Kos und Galen von Pergamon, deren Lehren lange Zeit in der Ausbildung junger Ärzte angewandt wurden und auch heute noch die Grundlagen vieler vermittelter Sachverhalte darstellen. Nicht umsonst ist der Eid des Hippokrates die Grundlage des Genfer Gelöbnisses, das wir zwar nicht mehr aktiv leisten müssen, nach dessen Vorgaben wir jedoch praktizieren. Die Geschichte der Medizin ist eine Wissenschaft für sich. Und in dieser Geschichte steckt ein enromer Erfahrungsschatz. Die Betrachtung erfolgt dabei interdisziplinär in Zusammenarbeit von Ärzten, Historikern und Philosophen. Informationen stammen aus alten Tagebüchern, Briefen, literarischen Texten oder Krankenakten. Es lohnt sich wirklich, ein bisschen tiefer in diesen Bereich einzutauchen.
Unsere medizinischen Wurzeln
Die frühesten Übermittlungen reichen bis 2600 v. Chr. in den Orient zurück und befassen sich mit Arzneimitteln sowie ethischen Grundlagen des Arztberufes. Allerdings wurden damals noch Dämonen und Götterstrafen als Verursacher von Krankheiten angesehen. Hippokrates von Kos (460-370 v. Chr.) ist natürlich als Leitfigur der antiken griechischen Medizin der Star der Medizingeschichte. Sein Nachfolger Galenos von Pergamon (129-216 n. Chr.) führte die endgültige Form der Viersäftelehre oder Humoralpathologie als Grundlage der Heilkunst ein, die bis ins 19. Jahrhundert hinein angewandt wurde.
Das Werk der beiden beeinflusst nach wie vor unsere heutige westliche Medizin. Verschiedene ausführliche Enzyklopädien wurden auf Basis dieser Lehre verfasst. Im Mittelalter des Westens entsteht dann im 11. und 12. Jahrhundert die sogenannte „Klostermedizin“, wobei deren wichtige Vertreterin Hildegard von Bingen (1098 – 1179) eine ganzheitliche Kräuterheilkunde praktizierte. Als die Galenschen Lehren in diese Wissenschaft integriert werden, bildet sich daraus im Jahr 1231 die Schule von Salerno, eine der ersten medizinischen Hochschulen Europas, die im 13. Jh. die Einrichtung medizinischer Fakultäten an den Universitäten von Montpellier, Paris, Bologna und Padua ermöglichte.
Noch heute prägende Fortschritte
Im deutschsprachigen Raum galten die Fakultäten in Köln, Wien, Heidelberg, Tübingen, Erfurt und Basel als die ersten, die ab dem 15. Jahrhundert die Heilkunst lehrten. Für die Biochemie dürfen wir uns bei Paracelsus bedanken, der hier erste Erkenntnisse sammelte. Zahlreiche Neuentdeckungen folgten in den Bereichen Anatomie und Physiologie, allen voran William Harvey, der erstmals Blutkreislauf und Herzfunktion beschreiben konnte. Durch die enormen Fortschritte in den Naturwissenschaften konnten dann im 19. Jh. essentielle Erkenntnisse generiert werden, die heute unsere ärztliche Tätigkeit prägen. Rudolf Virchow legte durch seine Zellularpathologie den Grundstein zur Histologie und löste damit die Viersäftelehre ab.
Ein historischer Schritt in der Bekämpfung von Krankheitserregern, der Bakteriologie und der Mikrobiologie war die Eindämmung des Kindbettfiebers durch Hygienemaßnahmen durch Ignaz Semmelweis. Durch die Entdeckung der Antisepsis und Erkenntnisse in der Anwendung einer Narkose wurde die Chirurgie revolutioniert – viele Operationstechniken, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, werden heute noch verwendet. Nicht zu sprechen von der Bedeutung von bahnbrechenden Entdeckungen wie DNA, Antibiotika, Radioaktivität und vielem mehr.
Aus der Geschichte lernen
Wie dieser kurze geschichtliche Abriss zeigt, hat sich die Heilkunst im Verlaufe der Jahrhunderte rasant fortentwickelt. Doch trotz der rasanten Entwicklung in vielen Bereichen der Medizin, sollten wir möglicherweise die Errungenschaften unserer Vorväter nicht ganz abschreiben, sondern pflegen und nutzen. Die Relevanz der Erhaltung der alten Heiltechniken und deren Integration in unser modernes System möchte ich Euch nun an einigen kurzen Beispielen aus der Klostermedizin verdeutlichen.
Westliche Klöster blicken auf mehr als 1500 Jahre medizinische Praxis und Forschung zurück, wobei vorrangig in den beiden Fachgebieten Innere Medizin und Chirurgie praktiziert wurde. Einige seitdem bekannte Techniken und Heilkräuter werden nach wie vor erfolgreich verwendet. Der Aderlass beispielsweise ist eine uralte Therapieform, die nach wie vor bei den Krankheitsbildern Polycythaemia vera, Hämochromatose sowie Polyglobulie erfolgreich angewendet wird. Am Beispiel des Heilmittels Johanniskraut (Hypericum perforatum) erkennt man die vielen Anwendungsmöglichkeiten solcher traditioneller Heilmittel: innerlich zur Behandlung von Angstzuständen, psychovegetativen Störungen, depressiven Verstimmungen, Dyspepsien und zur Unterstützung der Verdauung, äußerlich zur Nachbehandlung von scharfen und stumpfen Verletzungen, leichten Verbrennungen und Myalgien. Die geschichtlichen Erkenntnisse sollen natürlich keinen Ersatz für die Schulmedizin sein, können aber ergänzend hilfreich sein und dabei die schulmedizinischen Therapieansätze unterstützen. Vorteile sind weiterhin die kaum vorhandenen Nebenwirkungen der Arzneimittel.
Aber aufgepasst, auch hier ist Vorsicht geboten: besagtes Johanniskraut etwa induziert CYP 450 und verringert somit die Wirksamkeit einiger Medikamente, wie zum Beispiel die oraler Kontrazeptiva. Ganz frei von unerwünschten Wirkungen sind also auch diese Alternativen nicht. Dazu ein recht interessantes Paper zu möglichen Wirkungen und Interaktion des Johanniskraut. Einen sehr spannenden Beitrag mit dem Titel „Heilen wie im Mittelalter“ gab es zu diesem Thema vor kurzem auf ARTE zu sehen.
Klostermedizin – der "neue" Trend
Dr. Phil. Johannes Mayer betreibt an der Universität Würzburg die Forschungsgruppe Klostermedizin. Diese bemüht sich, die überlieferten Rezepte nachzustellen und beurteilt immer wieder die Effektivität der Kräutertinkturen und –salben. Besonders bei Erkältungskrankheiten, Asthma, Rheuma oder dermatologischen Krankheitsbildern wie Neurodermitis stellt die natürliche Heilkunst immer wieder ihre Wirksamkeit unter Beweis – teilweise laut Patientenaussagen sogar erfolgreicher als schulmedizinische Ansätze.
Wie sagt man so schön, jeder Trend kommt irgendwann wieder – in diesem Fall ist es nicht die Karottenhose oder der Nierentisch sondern die Klostermedizin. Immer mehr Kliniken bemühen sich, Abteilungen für traditionelle europäische Medizin zu eröffnen, wie beispielsweise das Krankenhaus für Naturheilweisen in München, das einen integrativen Ansatz anstrebt. Die Forschungsgruppe Klostermedizin von Dr. Mayer ist sogar mit einer Facebook-Seite im Internet vertreten. Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit dem Bereich nach wie vor leider eher beschränkt. Dies liegt unter anderem an fehlenden Geldern für Forschung, Skepsis und Desinteresse sowie noch mangelhafter Erstattung der Medikamente durch die Krankenkasse.
In unserem Studium ist das Fach "Geschichte der Medizin" (im Rahmen der Lehrveranstaltung „Ethik- und Geschichte der Medizin“) eine Pflichtveranstaltung und wird auch - in sehr geringem Umfang, aber dennoch - in den Staatsexamina geprüft. Aber nicht nur das sollte uns dazu bewegen, uns ein wenig mehr mit unseren „medizinischen Wurzeln“ auseinanderzusetzen und zu befassen. Vielleicht sollten wir in Zukunft ein wenig offener für die Traditionen unseres Faches sein, anstatt die Heilkunde vergangener Zeiten mit einem „Na, was wussten die schon?“ abzutun. Und uns zudem, ab und an, ein bisschen mehr darauf einlassen, aus einem solch großen Erfahrungsschatz zu schöpfen.