Hand aufs Mediziner-Herz! Hatten Sie nicht auch schon mal das Bedürfnis, ganz anders zu sein? Ist eine charakterliche Veränderung eigentlich möglich? Wenn es nach einigen Verhaltenspsychologen geht, ist der Charakter des Menschen bereits vorgeburtlich festgelegt.
Würden Sie Gerhard Roth fragen, ob ein Mensch sich charakterlich verändern kann – er würde vermutlich sofort mit „Nein“ antworten. Roth ist Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs und war Direktor am Bremer Institut für Hirnforschung. Seine Forschungen belegen: Wir sind schon mit zwanzig Jahren weitgehend wie wir sind. An unserer Persönlichkeit lässt sich danach nur mit großem Aufwand und großer Geduld noch etwas ändern.
Komplexität: Spielwiese für einen Neurologen
Roth hat seine Forschungsergebnisse, die nicht zuletzt Auswirkungen auf unser Menschenbild, unsere Interpretation von Gesellschaft und insbesondere auf Kriminologie und Jurisprudenz haben müssten, bei der ersten Internationalen Management-Konferenz „econo:me“ in München präsentiert, die im Mai 2012 stattfand. Die zweitägige Veranstaltung, organisiert vom MKM Marketing Institute in Kooperation mit der Carl-von-Linde-Akademie der TU München stand unter dem Thema „Komplexität“ – Spielwiese für einen Neurologen! Nach jüngsten neurobiologischen Erkenntnissen vollzieht sich die Entwicklung der Persönlichkeit eines Individuums stets im Zusammenspiel zwischen Umwelt und Gehirn. Jede Erfahrung, die wir machen, führt zu direkten Verknüpfungen von einzelnen Nervenzellen im Gehirn, von denen es circa 100 Milliarden gibt, davon rund 15 bis 20 Milliarden in der Großhirnrinde und weitere 30 Milliarden im Kleinhirn.
Persönlichkeit entwickelt sich vorgeburtlich
Das wahrlich interessante dabei: „Die Zahl der Verknüpfungen dieser Neuronen erfolgt überproportional vorgeburtlich und in den ersten Lebensjahren und nimmt zum Erwachsenenalter hin deutlich ab“, sagt Roth. Und er wartet zum Beweis mit konkreten Zahlen aus der experimentellen Gehirnforschung auf: Die Synapsenzahl – also die Anzahl der Neuronenverknüpfungen im Gehirn – wächst ab der 30. Woche nach der Empfängnis von 10 hoch 11/cm³ auf circa 60 hoch 11/cm³ im achten Lebensmonat eines Babys, um dann im Laufe des Lebens wieder deutlich abzufallen auf etwa 30 hoch 11/cm³. Diese Entwicklung gilt laut Roth auch für den Teil des menschlichen Gehirns, der wissenschaftlich belegt als Sitz der Persönlichkeit und Psyche ausgemacht werden konnte: Das limbische System. Es besteht aus Hypothalamus, Amygdala, mesolimbischem System und limbischem Cortex – Hirnregionen, die im Laufe des Lebens teils sehr früh, teils sehr spät gebildet werden.
Unser Temperament ist durch Erfahrung oder Erziehung kaum zu beeinflussen
Die untere limbische Ebene des Hypothalamus - vegetatives Zentrum des Hirnstamms – wird überwiegend genetisch oder durch vorgeburtliche Einflüsse bedingt. „Sie bildet unser Temperament und ist durch Erfahrung oder Erziehung kaum zu beeinflussen“, so Roth. Hierzu gehören grundlegende Persönlichkeitsmerkmale wie Offenheit, Verschlossenheit, Selbstvertrauen, Kreativität, Vertrauen, Risikobereitschaft, Pünktlichkeit oder Verantwortungsbewusstsein. „Sie werden ein unpünktliches Kind nie zu einen pünktlichen machen“, so Roth. „Versuchen Sie es erst gar nicht!“ Und noch krasser formuliert: „Je früher Traumatisierungen passieren, desto schlimmer für die spätere Charakterentwicklung. Erlebt eine Mutter in der Schwangerschaft grässliche Dinge, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das erwachsene Kind später psychisch krank wird, sehr groß.“
Schwerkriminelle missinterpretieren häufig Mimik
Die mittlere limbische Ebene steht für den Bereich der unbewussten emotionalen Konditionierung. „Sie macht zusammen mit unserem Temperament den Kern unserer Persönlichkeit aus“, so Roth. „Dieser Kern entwickelt sich in den ersten Lebensjahren und ist im Jugend- und Erwachsenenalter nur über starke emotionale oder lang anhaltende Einwirkungen veränderbar.“ Der Bereich der Amygdala ist zuständig für all unsere Emotionen wie Furcht, Freude, Glück, Verachtung, Ekel, Neugierde oder Hoffnung. Er ist auch der Ort im Gehirn, der emotionale kommunikative Signale unbewusst interpretiert: Blick, Mimik, Gestik oder Körperhaltung. Hier können schon frühzeitig Fehleinschätzungen sozusagen vorprogrammiert werden. Roth: „Wir konnten bei vielen Schwerkriminellen oft beobachten, dass sie das Lächeln ihres Gegenübers ständig als aggressive Mimik missinterpretieren – was fatale Folgen haben kann.“
Der prä- und orbifrontale, cinguläre und insuläre Cortex-Bereich im Gehirn steuert schließlich das emotional-soziale Lernen. Hier liegen Gewinn- und Erfolgsstreben, Anerkennung, Freundschaft, Liebe und Moral vor Anker. Zusammen mit den beiden unteren limbischen Ebenen werden hier Persönlichkeitsmerkmale wie Machtstreben, Dominanz, Zielverfolgung und Kommunikationsbereitschaft festgeschrieben. Diese Ebene entwickelt sich laut Roth aber erst in später Kindheit und Jugend und wird wesentlich durch sozial-emotionale Erfahrungen beeinflusst. „Sie ist dementsprechend auch nur sozial-emotional veränderbar“, so der Hirnforscher.
Hat der Mensch einen freien Willen? Jein!
Diese neurologischen Befunde führen im Kern zu einer existentiellen Frage: Haben wir einen freien Willen? Können wir uns entscheiden? „Jein“, sagt Roth. „Wir haben durchaus die Chance, uns zu verändern – aber nur mit einer 20-Prozent-Wahrscheinlichkeit.“ Voraussetzungen könnten sein: Sehr günstige Außeneinflüsse, eine gute psychologische Betreuung oder vielleicht ein liebevoller Partner. Und das gilt für verurteilte, eigennützige Straftäter ebenso wie für altruistische, veränderungswillige Mediziner in gleicher Weise!