Gentests sind erschwinglich geworden. Für viele ist es verlockend, auf Basis ihrer eigenen DNA Krankheitsrisiken abzuschätzen oder Effekte von Arzneimitteln besser zu steuern. Eine tolle Zukunftsperspektive, die noch Schwachstellen hat.
Renae Bates lag auf dem OP-Tisch und kämpfte nach einer Tonsillektomie um ihr Leben. Die 28-jährige Australierin gehört zu den fünf Prozent der Bevölkerung mit einem speziellen Enzymmangel: Ihr Körper stellt zu wenig Pseudocholinesterase her. Nach der OP sollten Muskelrelaxantien eigentlich innerhalb kürzester Zeit wieder abgebaut werden. Fehlt das nötige Enzym, wirken entsprechende Pharmaka deutlich länger. Und so wurde Renae Bates zu früh extubiert. „Ich habe versucht, mich bemerkbar zu machen, um ihnen zu sagen, dass ich nicht atmen kann“, erinnert sich die Patientin. Ärzte und Schwestern waren mit Aufräumarbeiten beschäftigt, bemerkten das Problem aber gerade noch rechtzeitig – die Australierin hatte Glück im Unglück. Einige Zeit später ging sie der Sache selbst nach und ließ ihr Erbgut für einen geringen Obolus untersuchen. Gendiagnostik – günstig wie noch nie Noch vor einigen Jahren hätte es für Renae Bates schlecht ausgesehen: Um das menschliche Erbgut zu entschlüsseln, brauchten Forscher des Humangenomprojekts von 1990 bis 2005, als der endgültige Datensatz schließlich veröffentlich wurde. An dem Projekt waren Kollegen aus rund 50 Ländern beteiligt, und das Budget lag bei etwa drei Milliarden Dollar, jedoch nicht nur für die Sequenzierung allein. Im letzten Jahr sanken die Unkosten auf 5.000 bis 10.000 US-Dollar, und im März setzte sich der Trend weiter fort: Wie der amerikanische Konzern Life Technologies jetzt berichtet, lässt sich mit dem Ion Proton™ Sequencer das Erbgut eines Menschen für nur 1.000 US-Dollar bestimmen, in weniger als 24 Stunden. Kein Einzelfall: Laut Professor Dr. Karl J. Lackner, Johannes Gutenberg Universität Mainz, sei festzustellen, dass die Effizienz derartiger Verfahren bei gleichzeitig sinkenden Sequenzierungskosten stetig steige. Niedrige Preise machen entsprechende Hardware schon bald für Laien erschwinglich. OpenPCR etwa bietet einen Thermocycler schon für 599 Euro an. Mit diesem Gerät reichen wenige Zellen der Mundschleimhaut aus, um etwas DNA zu gewinnen und über die Polymerase-Kettenreaktion ein paar Gene zu amplifizieren, die beispielsweise mit unserer Muskelleistung korrelieren. Schnell per Post zu „23andMe“ – oder gleich in die eigene DNA-Analysebox: Bereits ab 900 US-Dollar liefert Oxford Nanopore Technologies® ein mit Kartuschen arbeitendes System. Mit SNPs auf Krankheitsjagd Geht es um bestimmte Leiden oder Verwandtschaftsbeziehungen, reicht schon die Bestimmung von Einzelnukleotid-Polymorphismen (Single Nucleotide Polymorphisms, SNPs), also Unterschieden einzelner Basen im Erbgut, verglichen mit der durchschnittlichen Bevölkerung. Ohne komplette Genome zu sequenzieren, können SNPs als Marker für bestimmte Krankheiten dienen, sie repräsentieren rund 90 Prozent der genetischen Variabilität. Im Klartext bedeutet das, knapp sechs Milliarden konstante Orte einfach zu ignorieren und lediglich zwölf Millionen variable Positionen zu untersuchen. „23andMe“ wiederum knöpft sich etwa 600.000 SNPs vor, was nahezu alle bekannten Mutationen mit einschließt – zum Schleuderpreis von rund 200 US-Dollar, inklusive Online-Abo für die Auswertung. In Deutschland bewegen sie sich damit juristisch auf recht dünnem Eis – noch. Aus der Hand gegeben? Laut Gendiagnostikgesetz darf „eine diagnostische genetische Untersuchung nur durch Ärztinnen oder Ärzte und eine prädiktive genetische Untersuchung nur durch Fachärztinnen oder Fachärzte für Humangenetik oder andere Ärztinnen oder Ärzte, die sich beim Erwerb einer Facharzt-, Schwerpunkt- oder Zusatzbezeichnung für genetische Untersuchungen im Rahmen ihres Fachgebietes qualifiziert haben“, vorgenommen werden, wohlgemerkt mit ausdrücklicher Zustimmung des Patienten. Und weiter: „Vor Einholung der Einwilligung hat die verantwortliche ärztliche Person die betroffene Person über Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung aufzuklären.“ Online-Anbieter mit Sitz außerhalb des Bundesgebiets kümmert das freilich kaum. Auch bleibt fraglich, inwieweit sich die restriktiven Forderungen halten lassen. Schon oft hat die Realität juristische und gesellschaftliche Normen überholt. In der Medizingeschichte erinnert man sich gern an Königin Victoria von England (1819 bis 1901): Sie entschied sich bei der Geburt ihres achten Kindes 1853 für eine Chloroform-Narkose – was kirchliche und ärztliche Kritiker umgehend verstummen ließ. Guter Rat: wirklich teuer Zurück in das Zeitalter der Gene: Sequenzdaten kommentarlos an Laien zu übergeben, ist für Humangenetiker wie Professor Dr. Karsten R. Held vom Hamburger Zentrum für Humangenetik ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Devise lautet „Beratung – Diagnostik – Beratung.“ Vor allem erhöhe sich mit zunehmender technischer Sensitivität der Tests die Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen und die Erzeugung schwer interpretierbarer Bits und Bytes. Für Held macht ein genetischer Befund ohnehin nur zusammen mit klinischen Fakten Sinn. Das hat seinen Grund: Beispielsweise fanden Wissenschaftler im Rahmen des „1000-Genome-Projekts“, dass jeder Mensch bis zu 300 veränderte Erbanlagen hat. Per se sind die Abweichungen nur in manchen Fällen relevant. Und selbst bei nachgewiesenem Risiko muss das entsprechende Leiden nicht immer ausbrechen, sollte nur ein Allel in veränderter Form vorliegen. Individuelle Faktoren spielen hier die entscheidende Rolle: Patienten entwickeln trotz Hinweisen aus der Molekularbiologie beispielsweise nicht zwangsläufig eine Herz-Kreislauf-Erkrankung, sollten sie Risiken wie Tabakkonsum meiden, sich vernünftig ernähren und ausreichend bewegen. Andererseits gibt es Erkrankungen, die in der Tat rein genetische Ursachen haben. Dazu gehört beispielsweise das neurodegenerative Leiden Chorea Huntington: Meist treten um das 40. Lebensjahr erste Anzeichen auf, dann haben Patienten im Schnitt noch 15 Jahre bis zum sicheren Tod, Therapien gibt es keine. Wie Patienten mit einer derartigen Hiobsbotschaft leben sollen, verrät ihnen kein Online-Dienstleister. Für Versicherungen hingegen wären solche Informationen Goldes wert. Ende der Privatsphäre Sinkt die Hemmschwelle von Gentests immer weiter, sprich reichen selbst für Laien ein paar Zellen aus, um beispielsweise vor Abschluss einer Versicherung unbemerkt nach möglichen Erkrankungen zu fahnden, wird der Gesetzgeber gefordert sein, strenger zu agieren. Auch sind die eigenen Daten vor Pannen nicht sicher, wie „23andMe“ vor Augen geführt hat: Im Labor waren kurzerhand 96 Proben vertauscht worden - fatal, wenn es um tödliche Krankheiten geht und scheinbar Betroffene aufgrund der falschen Ergebnisse ihr Leben radikal ändern. Auch bleibt unklar, wie sicher die Sequenzierdaten beim Anbieter, aber auch auf dem eigenen Computer, sind. Ein Recht auf Information Dennoch betonen gerade US-Anbieter das Recht der Patienten auf ihre Daten und investieren Millionen, um standardisierte Auswertungen laiengerecht anzubieten, etwa für die Arzneimitteltherapie: Werden heute nur bei ausgewählten Krankheiten Gentests gemacht, könnten vielleicht schon in wenigen Jahren alle Menschen ihren Cytochrome P450-Status kennen. Diese Enzyme steuern in der Leber Phase I-Reaktionen, ohne Kenntnis des genauen Status werden etliche Medikationen zum russischen Roulette, nicht nur bei Zytostatika. Prozonenpumpenhemmer, Thrombozytenaggregationshemmer, Vitamin K-Antagonisten und viele weiteren Wirkstoffe verhalten sich von Patient zu Patient sehr unterschiedlich, je nach genetischem Polymorphismus. Gut für die eigene Behandlung, mit ihren Sequenzdaten tragen Patienten aber auch zum Wohl der Allgemeinheit bei. Crowdsourcing in der Forschung Das zeigen verschiedene genomweite Assoziationsstudien, welche von Sequenzierdienstleistern in Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Im April etwa erschien ein Artikel über Hypothyreose, Forscher bei „23andMe“ identifizierten Autoimmun-Risiko-Loci. Dazu Anne Wojcicki, Direktorin und Mitbegründerin der Firma: „Mit einer Teilnahme von rund 90 Prozent unserer 125.000 Kunden ist Forschung auf Basis von Crowdsourcing heute schon zur Realität geworden“. Wojcicki unterstreicht die Vorteile gegenüber akademischen Prozessen: „Unser Online-Plattform macht Forschung schneller und kostengünstiger möglich als bei traditionellen Herangehensweisen.“ Mehr über das eigene Genom erfahren und dabei noch anderen Menschen helfen, darin sehen viele Genetiker heute eine großartige Perspektive für die Zukunft.