Forscher entdecken in der Netzhaut spezielle Nervenzellen, mit deren Hilfe das Auge zwischen kleinen, kontrastreichen und großen, kontrastarmen Objekten unterscheiden kann.
Sehen beginnt, wenn Licht auf die Netzhaut des Auges trifft und dort von einem ganzen Arsenal an verschiedenen Nervenzellen verarbeitet wird. An vorderster Front stehen Photorezeptoren, die das Licht aufnehmen und in ein elektrisches Signal umwandeln. Diese Information leiten Horizontal-, Bipolar- und Amakrinzellen an die Ganglienzellen weiter. Dort werden die eingehenden Impulse ausgewertet und über den Sehnerv in das Gehirn gesendet. Jede dieser Ganglienzellen ist dabei für einen kleinen Ausschnitt des visuellen Gesichtsfelds zuständig. Bislang war es allerdings unklar, wie die Zellen unterscheiden, ob das Licht innerhalb des Ausschnitts von einem kleinen, kontrastreichen Objekt oder aber von einem großen, kontrastarmen Objekt ausgeht. Forscher der Universitätsmedizin Göttingen und des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie Martinsried konnten nun in einer Studie zeigen, dass vermutlich zwei unterschiedliche Arten von Ganglienzellen in der Netzhaut des Auges dafür vorhanden sind. Wie die Wissenschaftler um Professor Tim Gollisch und Daniel Bölinger in der Fachzeitschrift Neuron berichten, gibt es Ganglienzellen, die darauf spezialisiert sind, vor allem kleine Objekte zu erkennen, und andere Ganglienzellen, die besonders gut auf größere Objekte reagieren. Zusammen stellen beide Zellarten dem Gehirn die nötige Information zur Verfügung, damit dieses unterschiedlich große Objekte auseinander halten kann. Minielektroden messen Signale Für ihre Experimente verwendeten Gollisch und seine Mitarbeiter speziell präparierte Netzhäute, die sie vorher aus Salamandern isoliert hatten. Ein ungefähr zwei Millimeter langes und ebenso breites Stück einer solchen Netzhaut, das ungefähr 10000 Ganglienzellen enthält, legten die Forscher auf ein kleines Glasplättchen, das von 60 feinen Drähten mit einem Durchmesser von einem Hundertstel Millimeter durchzogen wird. Mit Hilfe dieser Minielektroden war das Team um Gollisch in der Lage, die Signale von denjenigen Ganglienzellen zu messen, die sich direkt über einer der Minielektroden befanden. Das Netzhautpräparat auf dem Glasplättchen wurde von einem kleinen Bildschirm angestrahlt, auf dem zwei unterschiedlich kontrastreiche Objekte zu sehen waren. „Da es in der realen Welt nicht nur entweder hell oder dunkel gibt, wollten wir wissen, wie Ganglienzellen auf die Kombination zweier Lichtreize reagieren, die sie gleichzeitig erhalten“, sagt Gollisch, der Leiter einer Arbeitsgruppe in der Abteilung Augenheilkunde der Universitätsmedizin Göttingen. „Bei jeder einzelnen Messreihe haben wir uns jeweils die Signale einer einzelnen Zelle angeschaut.“ Gollisch und seine Mitarbeiter konnten mit den Messungen feststellen, dass die Signale auf zwei verschiedene Weisen interpretiert wurden. „Der eine Zelltyp sendet starke Signale, wenn er durch ein großes, kontrastarmes Objekt gereizt wird, aber reagiert kaum, wenn er durch ein kleines, kontrastreiches Objekt angeregt wird, beim anderen Zelltyp ist es genau umgekehrt“, berichtet Gollisch. Ganglienzellen, die kleine Objekte bevorzugen, kommen in der Netzhaut etwa zweimal so häufig vor wie die Zellen, die besonders gut auf große Objekte reagieren. Spezialisierte Nervenzellen helfen beim Überleben Gollisch geht davon aus, dass die beiden Arten von Ganglienzellen Salamandern einen Vorteil im Überlebenskampf verschaffen. „Sie können damit besser zwischen Futter und Feind unterscheiden und ihre Reaktion entsprechend ausrichten“, sagt der Biologe. „Bei einem kleinen Insekt muss der Salamander schnell zuschnappen, nähert sich dagegen ein Vogel, muss er so schnell wie möglich verschwinden.“ Da die Netzhäute von Salamander und Mensch ähnlich aufgebaut sind, ist es Gollisch zufolge wahrscheinlich, dass auch in der menschlichen Netzhaut verschiedene Arten von Ganglienzellen existieren, mit denen diese Größe und Kontrast von Objekten auseinanderdividiert. Momentan wiederholt das Team um Gollisch die Experimente mit Netzhäuten von Mäusen. „Können wir damit unsere Ergebnisse bestätigen, spricht nicht mehr viel dagegen, dass menschliche Ganglienzellen in dieser Hinsicht auf gleiche Weise funktionieren.“ Grundlagenforschung wie die Göttinger Wissenschaftler sie betreiben, kann dabei helfen, neue Therapien für degenerative Krankheiten der Netzhaut zu optimieren: „Wenn bekannt ist, wie die Ganglienzellen im gesunden Zustand genau funktionieren, dann kann man zukünftige Behandlungsansätze so ausrichten, dass der ursprüngliche Zustand möglichst wieder erreicht wird“, erklärt Gollisch. Auch bei der Entwicklung von visuellen Prothesen, so der Forscher, sei es wichtig zu wissen, welche Funktionen die verschiedenen Ganglienzellen hätten. Gollisch: „Mikrochips, die die Funktion der degenerierten Pigmentzellen ersetzen sollen, können diese Aufgaben nur vollständig erfüllen, wenn klar ist, welcher Reiz an welche Ganglienzelle weitergeleitet werden muss.“