Wenn sich für Schmerzen keine klare Ursache finden lässt, lohnt oft ein Blick auf das Kiefer-Kau-System. Betroffene leiden häufig an Gelenkschäden und funktionellen Störungen in diesem Bereich. Erfahrungswissen aber auch Studien legen nahe, dass das kein Zufall ist.
Das Kauen dürfte den meisten Menschen als eine alltägliche und banale Bewegung erscheinen. „Weit gefehlt“, sagt Doctor of Dental Surgery Rainer Schöttl aus Erlangen. „Das Kauen ist ein hochkomplexer Vorgang, bei dem die Muskeln eine einzigartige Aufgabe im Organismus erfüllen. Sie müssen den Unterkiefer an eine exakt definierte Stelle im Raum bringen und eine punktgenaue Okklusion der 16 Zahnpaare herstellen.“ Im reflektorischen Wechselspiel von Kau- und Nackenmuskeln einerseits und hochauflösenden Rezeptoren anderseits wird dabei laufend die Position der Kiefer zueinander festgelegt. „Selbst die Ruheschwebe ist nichts anderes als ein Zielen auf die okklusale Endposition“, so Schöttl. Schiefe Töne im stomatognathen Orchestergraben Diese orchestrale Harmonie kann jedoch leicht in eine Schieflage geraten – etwa bei Kieferfehlentwicklungen, Verletzungen, Gelenkerkrankungen und Diskusverlagerungen, beziehungsweise wenn es aus diesen oder weiteren Gründen zu einer unklaren Bisslage kommt. „Dann muss die Kieferposition bereits in der Ruheschwebe angepasst werden, was die Muskulatur einseitig belastet“, erklärt Schöttl. Darüber hinaus entwickeln viele Patienten ein gestörtes Okklusionsgefühl und Parafunktionen, wie ein permanentes Zähnereiben oder – pressen. „Während die kumulierte Dauer der Zahnkontakte bei Gesunden etwa 20 Minuten pro Tag beträgt, sind es bei Patienten oft mehrere Stunden“, sagt Schöttl. Fachleute sprechen bei derartigen Befunden von einer craniomandibulären Dysfunktion (CMD, im angelsächsischen Sprachraum temporomandibular disorder TMD). Studien zufolge ist sie weit verbreitet. Für Zeichen und Symptome wie Gelenkknacken, eingeschränkte oder asymmetrische Kieferöffnung, Druckempfindlichkeit im Kieferbereich oder abradierte Zähne werden aus den USA Prävalenzraten zwischen 40 und 75 Prozent berichtet, in der deutschen Study of Health in Pomerania (SHIP)-Studie war knapp die Hälfte der rund 7.000 Teilnehmer betroffen. 3 bis 10 Prozent dieser Patienten berichten von Beschwerden in einem klinisch relevanten Ausmaß. Meist handelt es sich um Schmerzen und Missempfindungen in Gesicht, Kiefer, Kopf und Nacken, aber auch Tinnitus, Schwindel, Sehstörungen und Rückenschmerzen werden mit der CMD in Verbindung gebracht. Selbst bei Fibromyalgie und beim chronisch regionalen Schmerzsyndrom CRPS soll die Störung eine Rolle spielen. „Entsprechende Beobachtungen kennt man aus dem Bereich der manuellen Medizin schon länger“, sagt der Facharzt für physikalische und rehabilitative Medizin PD Dr. Michael J. Fischer, München. Aber auch Studiendaten liegen vor. Sie zeigen, dass bis zu drei Viertel der Fibromyalgie-Patienten gleichzeitig eine CMD haben - in einer Untersuchung mit 20 schwer erkrankten CRPS-Patienten waren sogar alle betroffen. Naturgemäß geben derartige epidemiologische Studien keine Auskunft darüber, ob hinter diesen Assoziationen ein kausaler Zusammenhang steht, oder ob die CMD nur ein Begleitphänomen ist. Abgesehen davon: Ist es überhaupt plausibel, dass eine CMD Schmerzen nicht nur lokal, sondern im ganzen Körper triggert? Schaltstelle Trigeminus Ja, durchaus, sagen die Verfechter des Konzepts. Demnach führen auf lokaler Ebene entweder Gelenkerkrankungen oder die bereits erwähnte unklare Bisslage zu einer chronischen Reizung der Kaumuskeln. Die Folge sind Verspannungen und Schmerzen, die sich im Sinne eines Teufelskreises gegenseitig unterhalten oder sogar verstärken. An dieser Stelle kommt der Nervus trigeminus ins Spiel. In ihm sind schmerzleitende Fasern aus verschiedenen Regionen verschaltet. Sobald er nozizeptive Signale aus dem Kieferbereich erhält, werden sie auf Grund dieser Verschaltung als so genannter referred pain – also als übertragener Schmerz - auch an anderer Stelle wahrgenommen, etwa in Form von Nackenverspannungen oder Kopfschmerzen. Darüber hinaus verknüpft der Trigeminus-Nerv propriozeptive Signale über Projektionen mit der Rückenmuskulatur und damit bis in den Lumbosakral-Bereich. Asymmetrien und Schmerzen im Kiefergelenk können so weit in den Körper ausstrahlen. „Auch dazu gibt es Befunde aus der manuellen Medizin“ bestätigt Fischer. „Wir beobachten immer wieder, dass Interventionen am Kiefer-Kau-System die Ergebnisse etwa des Patrick-Kubis-Tests oder des Priener Abduktionstests erheblich beeinflussen.“ In einer Studie ging Fischer diesen Aspekt auch wissenschaftlich an. „An Patienten mit CRPS konnten wir zeigen, dass eine Detonisierung der craniomandibulären Muskulatur die Hüftbeweglichkeit deutlich verbessert“, so Fischer. Einfache Diagnosestellung, schwierige Therapie Unter entsprechend geschulten Zahnärzten und Kieferorthopäden, manuell tätigen Ärzten und Therapeuten ist es daher meist selbstverständlich, bei chronischen Schmerzzuständen auch an eine CMD zu denken. Die Diagnose lässt sich Schöttl zufolge leicht anhand der typischen klinischen Zeichen und Symptome stellen. „Man sollte in jedem Fall darauf achten, ob Augen-, Ohren-, Kau- und Schulterebene schief zueinander stehen.“ Auffällig sei auch, wenn die Schneidezahnmitte von Ober- und Unterkiefer nicht in der vertikalen Gesichtsmitte liegt. „Weitere Hinweise auf eine CMD sind eine nach vorne verschobene Kopfhaltung, Gelenkknacken und starker Abrieb an den Zähnen“, so Schöttl. Inwieweit auch eine gestörte Okklusion vorliegt, lässt sich rasch mit dem so genannten Aqualizer testen. Es handelt sich dabei um ein Wasserkissen, das der Patient idealerweise über Nacht zwischen die Zähne nimmt. „Bei Fehlbelastungen im Biss bemerken Patienten oft schon nach kurzer Zeit eine Verbesserung“, weiß Schöttl aus Erfahrung. Bildgebende Verfahren und instrumentelle Funktionsanalysen können die Diagnose zusätzlich stützen oder konkretisieren. Zur Therapie der CMD kommen vor allem detonisierende Maßnahmen oder Bissschienen in Betracht – je nachdem, ob die Ätiologie eher myogen oder arthrogen ist. Ob weitere Maßnahmen notwendig sind, hängt davon ab, welche Funktionsabläufe und anatomische Strukturen betroffen sind und ob eine psychische Komorbidität besteht. Bei umfassenden Beschwerden und langjähriger Chronifizierung hat eine multimodale Therapie, an der Ärzte und Therapeuten verschiedener Disziplinen mitwirken, die größte Aussicht auf Erfolg. Dass das für die Patienten ein mühsamer Weg ist, liegt auf der Hand. „Aber“, insistiert Fischer, „in der manuellen Medizin beobachten wir immer wieder, dass sich chronische Schmerzen kaum dauerhaft behandeln lassen, wenn eine gleichzeitig bestehende CMD nicht ebenfalls behandelt wird.“