Exorbitante Beitragssteigerungen, verarmte Patienten und schlechte Leistungen: Die Kritik an privaten Krankenversicherungen reißt nicht ab. Jetzt wird es eng, der Wahlkampf naht. Um zu überleben, muss sich die PKV bald wandeln: idealerweise durch umfangreiche Reformen aus eigener Kraft.
Als Uwe Decker, Arzt aus Bad Segeberg, seine „Praxis ohne Grenzen“ ins Leben rief, wollte er eigentlich Obdachlose und Langzeitarbeitslose medizinisch versorgen, kostenlos versteht sich. Die Realität belehrte ihn eines Besseren: Im Wartezimmer sitzen nicht selten Handwerksmeister, Grafiker oder Bauunternehmer: der gestrandete deutsche Mittelstand, durch Unternehmenspleiten in die Armut abgerutscht. Können sie ihre PKV-Beiträge nicht mehr zahlen, bleibt nur noch eine Grundversorgung bei akuten Krankheiten beziehungsweise Schmerzen übrig.
Geld und Gesundheit: nur nicht in die „Gesetzliche“
Genau hier liegt das Problem: Gesunde, gut verdienende Menschen schätzen niedrige PKV-Tarife mit hohem Selbstbehalt. Mehr und mehr Versicherte dieser Zielgruppe unterschreiben vermeintlich lukrative Verträge. Im Alter dreht sich die Beitragsspirale unaufhaltsam nach oben, und viele Bürger fallen in das berüchtigte Rentenloch. An der Schwelle zum Ruhestand suchten Senioren deshalb gern wieder Schutz bei der GKV. Doch diesen Weg hat der Gesetzgeber schon seit Jahren verbaut. Auch erschweren manche privaten Versicherer den Wechsel in andere Tarife.
PKV: nicht nur für Millionäre
Mittlerweile wehrt sich die Branche gegen ihr Image, nur für die oberen Zehntausend interessant zu sein, etwa mit einer Studie des wissenschaftlichen Instituts der PKV. Entsprechende Aussagen basieren auf einer Stichprobe von 123.223 Personen, davon waren 11,3 Prozent privat versichert. Dieser Personenkreis ließ sich unter anderem in Beamte (24,7 Prozent), Pensionäre (17,5 Prozent), Freiberufler (15,7 Prozent) sowie Angestellte (11,6 Prozent) einteilen. In Summe lag das Einkommen bei lediglich 19,6 Prozent über der Versicherungspflichtgrenze. Eine Tatsache, die sich verschieden interpretieren lässt: Aus Sicht der PKV zeigt die Untersuchung, dass eben nicht nur Leistungen für Besserverdiener angeboten werden. GKV-Vertreter monieren, manche Anbieter versicherten auch Bürger, deren materielle Verhältnisse gar nicht ausreichten. Sobald eine schwere Erkrankung zu behandeln ist, geht der Schuss nach hinten los.
Medikamente auf Pump
Nicht nur Ärzte wie Helmut Decker kennen das Thema. Immer häufiger berichten Apotheker von mittellosen Privatpatienten, die kein Geld haben, um beispielsweise teure Zytostatika oder Analgetika auszulegen. Bleiben noch Überbrückungskredite von Banken – was nicht immer funktioniert. Kollegen versuchen, mit eigenen Vorräten, sprich Ärztemustern, auszuhelfen. Generell verstößt die Sammlung und Abgabe von Medikamenten durch Praxen jedoch gegen das Arzneimittelgesetz. Trotz klammer Patienten sehen PKVen in den meisten Fällen keine Notwendigkeit, von der gängigen Erstattungspraxis abzuweichen.
Schlechte Leistung mit Brief und Siegel
Eine weitere Branchenstudie liefert ebenfalls ernüchternde Erkenntnisse: Von Behandlungen erster Klasse kann bei den „Privaten“ kaum noch die Rede sein. Wissenschaftler untersuchten dazu 208 Tarifsysteme von 32 Privatkassen. Ihr Fazit: Keine Kombination erfüllte alle 85 Kriterien des gesetzlichen Katalogs. Vertreter der privaten Versicherer kritisierten, es gebe sehr wohl leistungsfähige Tarife. Wie Patienten diese bei 1.567 Kombinationen finden sollen, bleibt fraglich.
Naht das Ende der „Privaten“?
Grund genug für die Linke, PKVen als Vollversicherung abschaffen zu wollen. Einen Antrag brachte man noch kurz vor der Sommerpause ein, zu weiteren Beratungen wird es erst im Herbst kommen. In dem Schreiben fordern Politiker der Linken, alle Privatversicherten in gesetzliche Versicherungen aufzunehmen. Damit würden sich Angebote von PKVen auf freiwillige Zusatzversicherungen verringern. Unterstützung kommt von den Grünen: Deren gesundheitspolitische Sprecherin Birgitt Bender vermisst momentan vor allem Beiträge zur Qualität und Wirtschaftlichkeit von Gesundheitsleistungen sowie Instrumente zur Steuerung. Auch Professor Dr. Karl Lauterbach (SPD) ist mit dieser Form von Rosinenpickerei nicht zufrieden. Unübersehbar: Der Wahlkampf naht – und Oppositionsparteien werben mit ihrer Bürgerversicherung um Stimmen. Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) plädiert unter dessen für Eigenverantwortung, während Jens Spahn (CDU), gesundheitspolitischer Sprecher der Union, warnende Botschaften an die Branche richtet. Er hält Mindeststandards für dringend erforderlich, „Neiddebatten“ seien jedoch wenig hilfreich.
Gesetzliche Schattenseiten
Auch die GKV ist nicht frei von jedwedem Makel. Gesundheitsökonomen kritisieren vor allem deren fehlende Nachhaltigkeit. Aufgrund demographischer Tendenzen wird es auf lange Sicht nur zwei Optionen geben: Beiträge langfristig zu erhöhen oder Leistungen empfindlich zu kürzen. Hinzu kommt, dass gerade junge, gut verdienende Versicherte sich nach wie vor häufig für eine private Versicherung entscheiden und dem regulären System abhandenkommen. Die „Gesetzlichen“ nutzen ihren Spielraum hinsichtlich attraktiver Angebote für freiwillig Versicherte nicht weit genug aus. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, befürchtet zudem, ohne private Konkurrenz könnten GKVen ungeniert ihre Marktmacht gegenüber Ärzten und Patienten ausspielen.
Modelle für die Zukunft
Auch nach Ansicht von Professor Dr. Johann-Matthias Graf von der Schulenburg, Leibniz Universität Hannover, haben „Private“ in Zukunft ihre Existenzberechtigung. Der Wirtschaftswissenschaftler erwartet eine Annäherung beider Systeme – PKV und GKV würden Vorteile des jeweils anderen Systems in ihr Leistungsspektrum aufnehmen. Neue Denkanstöße kommen unterdessen von Dr. Florian Michael Pfister. In seiner Dissertation hält er als Basis eine Grundversorgung mit identischen Leistungen für denkbar – finanziert von allen Versicherten. Dann folgen freiwillige Angebote gesetzlicher oder privater Anbieter. An dritter Stelle stehen Leistungen für Selbstzahler. Das Modell sieht vor, Prämien nach persönlichem Gesundheitsrisiko zu kalkulieren, beinhaltet aber einen Sozialausgleich. Individuelle Rückstellungen sollen für mehr Beitragssicherheit im Alter sorgen.
Die Uhr tickt
So oder so, für die PKV sind Reformen unvermeidlich – besser aus eigener Kraft als durch den Gesetzgeber auferlegt. Laut PKV-Verband werden bis Jahresende zahlreiche Anbieter auf diese Herausforderung reagieren. Die Rede ist von Mindestleistungen, und zwar auf freiwilliger Basis.