Gibt es Faktoren, die bestimmen, ob eine Mutter ein "Schreibaby" zur Welt bringt? Anna Sidor erforschte an 300 Mutter-Kind-Dyaden, ob psychosoziale Belastungen der Mutter mit einem persistierenden exzessiven Schreien des Babys verbunden sind.
Das Ergebnis: Frauen mit einer unerwünschten Schwangerschaft, haben ein 12-fach erhöhtes Risiko ein "Schreibaby" zu bekommen. Sozial belastete Schwangere haben ein 5,5-fach erhöhtes Risiko. Die ersten Wochen mit einem Neugeborenen zu Hause sind nicht nur reine Glückseligkeit. Viele Familien leiden darunter, dass ihr Baby in den ersten Lebensmonaten deutlich mehr als andere Babys schreit und sich nur schwer oder gar nicht beruhigen lässt. Nach der Dreier-Regel von Morris Wessel ist ein Baby ein Schreibaby, wenn es mindestens drei Stunden am Tag, an mindestens drei Tagen der Woche, in mindestens drei aufeinanderfolgenden Wochen schreit. Meistens lässt das Schreien ab dem vierten Lebensmonat wieder nach. Bei Kindern, die exzessiv schreien, hält das Schreien oft auch darüber hinaus an. In Deutschland sind schätzungsweise 21% der neugeborenen Kinder "Schreibabys" – davon schreien etwa 40% der Kinder auch über den dritten Lebensmonat hinaus vermehrt.
Heidelberger Projekt fängt belastete Familien auf
Hilfsangebote sind für die betroffenen Familien oft nur schwer zu erreichen. Anders ist das in Hessen, Baden-Württemberg und dem Saarland: Hier sorgt das Projekt "Keiner fällt durch's Netz" unter Leitung des Heidelberger Psychoanalytikers und Psychiaters Professor Manfred Cierpka dafür, dass belastete Familien im ersten Lebensjahr des Kindes Unterstützung erhalten – eine Elternschulung und der regelmäßige Besuch einer Familienhebamme gehören zum Beispiel dazu.
Im Rahmen dieses Projektes wollten die Wissenschaftler herausfinden, ob psychosoziale Belastungen der Mutter mit exzessivem Schreien des Babys im fünften Lebensmonat assoziiert werden können. Die Mütter wurden zu Beginn der Studie von geschulten studentischen Mitarbeiterinnen besucht – zu diesem Zeitpunkt waren die Babys im Durchschnitt 18,5 Wochen alt. Zu der Befragung der Mütter gehörten sowohl persönliche Interviews, als auch Fragebögen, die die Mütter ausfüllen sollten. Mütter, die nach der sogenannten Heidelberger Belastungsskala (HBS) als ausreichend hoch belastet galten (HBS-Wert über 20), wurden in die Studie aufgenommen. Diese Mütter wurden erneut befragt, als ihre Babys zwischen vier und fünf Monaten alt waren.
Die Wissenschaftler ermittelten diese Parameter:
Relativ wenige Schreibabys in Studie – wie kommt das?
In dieser Studie waren 4,2 % der Babys von persistierendem Schreien betroffen – sie schrien also auch noch im fünften Lebensmonat extrem viel. Nach Schätzungen der Autoren müsste die Punktprävalenz jedoch bei etwa 8% liegen. Die Autoren vermuten, dass dieses Ergebnis mit der relativ niedrigen Feinfühligkeit betroffener Mütter zusammenhängen könnte: Da sozial belastete Mütter weniger feinfühlig für ihr Baby sind, könnten sie die Kinder eher ignorieren und Fragen nach dem Schreien mit "Nein" beantworten. Zudem ist die Wessel-Regel ein relativ eng gefasstes Kriterium für das exzessive Schreien des Kindes.
Unerwünschte Schwangerschaften - Zusammenhang mit Schreibabys?
Zu den entscheidenden sozialen Belastungen in der Schwangerschaft zählten lang anhaltender mütterlicher Stress, primär unerwünschte Schwangerschaft, Depressionen, unbewältigte Paarkonflikte, Konflikte mit der Herkunftsfamilie, kritische Lebensereignisse und Belastungen am Arbeitsplatz. Das Risiko, dass ein Säugling im fünften Lebensmonat exzessiv schreit, war bei einer unerwünschten Schwangerschaft um das 13-fache erhöht. Während nur zwei Prozent der Frauen mit erwünschten Schwangerschaften angaben, dass ihr Kind exzessiv schreit, waren es 19,4% der Frauen mit einer unerwünschten Schwangerschaft (χ² (1, 284) = 22,40, p < 0,001). Soziale Belastungen der Schwangeren erhöhten das Risiko um das 17-fache. Angenommen wird, dass das mütterliche Stress-Hormon Kortisol die Plazentaschranke passiert und das Gehirn des Ungeborenen beeinflusst – das autonome Nervensystem wird dadurch aktiviert und die HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) beeinträchtigt. Zudem kann das exzessive Schreien später in Schlafstörungen, beziehungsweise andere Verhaltensstörungen übergehen.
Beratung ist wichtig
Die Studie zeigt also, wie schon Belastungen in der Schwangerschaft Probleme des Babys vorprogrammieren können. Daher sollten die Mütter schon in der Schwangerschaft gut über Hilfsangebote beraten werden. Beispielsweise können Geburtsbegleiterinnen, sogenannte "Doulas", die Schwangere begleiten und ihr dabei helfen, Ängste und Unsicherheiten zu überwinden. Auch Programme zur ersten emotionellen Hilfe oder Familienhebammen können belastete Eltern unterstützen. Wünschenswert wäre natürlich, dass das Projekt "Keiner fällt durch's Netz" auf alle Bundesländer ausgeweitet wird.