Erstmalig hat die EMA nun einen therapeutischen Vektor zugelassen – auf recht ungewöhnlichem Wege. Weitere Forschungsergebnisse machen Mut, dass es bald Behandlungsmöglichkeiten für etliche Krankheiten genetischen Ursprungs gibt. Das Warten hat sich gelohnt.
Nachdem Forscher die Funktion von Genen verstanden hatten, lag für sie bereits Anfang der 1970er Jahre zumindest theoretisch nahe, Defekte auch zu reparieren. Bis zur Umsetzung sollte es noch zwei Dekaden dauern. Heute gelten Viren, die ihr Erbgut in menschliche Zellen einschleusen, als ideale Transportvehikel, sprich Vektoren. Intakte Gene werden direkt in der DNA verankert, können aber auch extrachromosal vorliegen. In beiden Fällen führen flankierende Sequenzen zu einer guten Ablesung (Transkription), und schließlich entstehen funktionsfähige Eiweiße (Translation). Im Wechselbad der Gefühle Nach erfolgreichen Tierexperimenten begannen Forscher am US-amerikanischen National Institute of Health 1990 mit Gentherapien am Menschen. Ihre erste Patientin, die damals vierjährige Ashanti DeSilva, litt an einem schweren, kombinierten Immundefekt (SCID, severe combined immunodeficiency), sie konnte mit temporärem Erfolg behandelt werden. Nach diesem Meilenstein folgten weitere vielversprechende Arbeiten, bis zum schicksalhaften Jahr 1999. Damals nahm Jesse Gelsinger, er litt an einem genetisch bedingten Mangel des Enzyms Ornithin-Transcarbamylase (OTC), an einer Studie teil. Der 18-Jährige bekam intakte OTC-Genkopien mit einem adenoviralen Vektor – und starb vier Tage später an den Folgen einer massiven Immunantwort auf das Virus. Daraufhin stoppte die Food and Drug Administration alle klinischen Studien. Mehr als ein Jahrzehnt später hat die Forschung wieder erholt. Heute ist klar: Gentherapien haben das Potenzial, bei seltenen Erkrankungen Menschenleben zu retten. Zulassung mit Hindernissen Als erstes Gentherapeutikum ist Alipogen Tiparvovec (Glybera®) jetzt kurz vor der Markteinführung. Der Ausschuss für Humanarzneimittel bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA hat eine Zulassung für Patienten mit erblich bedingtem Lipoproteinlipase-Mangel empfohlen. Dem ging ein regelrechtes Tauziehen voran: Bereits Anfang 2010 schickte der Hersteller Amsterdam Molecular Therapeutics (AMT) alle Dossiers zur EMA, Mitte 2011 kam ein ablehnender Bescheid. Die Behörde kritisierte vor allem zu geringe Fallzahlen in der Phase-III-Studie, lediglich 27 Patienten erhielten Glybera. Nach Einspruch des Herstellers kamen zwei neuerliche Bewertungen zum gleichen Ergebnis – und AMT musste Insolvenz anmelden. Dem folgte eine hitzige Debatte: Eigentlich hatte der EMA-Ausschuss mehrheitlich zu Gunsten von Glybera votiert. Da ein Mitglied fehlte, wurde das Quorum von 17 Stimmen aber knapp verfehlt. Professor Alastair Kent, Direktor der Genetic Alliance UK, protestierte mit einem Schreiben sogar bei der EU-Generaldirektorin für Gesundheit und Verbraucher, Paola Testori Coggi. Nach größeren Diskussionen beschlossen EMA-Vertreter, unter strengen Auflagen eine Zulassungsempfehlung auszusprechen. UniQure, neuer Hersteller des Präparats, muss engmaschig therapeutische Daten erfassen und an die Behörde weitergeben. Aus Fehlern gelernt Glybera hilft Patienten mit einem Lipoproteinlipase-Mangel, davon sind ein bis zwei Menschen unter einer Million betroffen. Sie können aufgrund des Enzymmangels Triglyceride aus Lipoprotein-Partikeln nicht spalten. In der Folge kommt es häufig zu einer akuten Pankreatitis. Mit Hilfe des Vektors auf Basis adeno-assoziierter Viren wird ein leicht modifiziertes Gen der Lipoprotein-Lipase in Zellen gebracht. Dort bleibt die Nukleinsäure extrachromosomal über längere Zeit stabil, wird transkribiert und zum fehlenden Enzym translatiert. Aus dem folgenschweren Zwischenfall beim Tode Jesse Gelsingers haben die Forscher jedenfalls ihre Lehren gezogen: Bei der Anwendung von Glycerba verabreichen sie über zwölf Wochen Ciclosporin plus Mycophenolat-Mofetil, um das Immunsystem zu supprimieren. Hinweise auf Langzeitrisiken gibt es jedoch nicht, so das resultat eines Follow-ups. Der Nutzen steht außer Frage, vor allem konnte die gefährliche Pankreatitis zurückgedrängt werden. Lipidwerte stiegen über Monate jedoch wieder leicht an. Stammzellen reloaded Auch beim Addison-Schilder-Syndrom, der X-chromosomalen Adrenoleukodystrophie (X-ALD), haben Forscher gentherapeutische Ansätze entwickelt. Die Krankheit führt über eine Akkumulation von Fettsäuren im Gehirn und Rückenmark zum neurologischen Verfall. Bei den Betroffenen ist ein Transporter defekt, der normalerweise sehr langkettige Fettsäuren in zelluläre Peroxisomen befördert, wo diese abgebaut werden. Professor Patrick Aubourg, Paris, hat bereits vor zwei Jahren X-ALD-Kinder erfolgreich therapiert. Deren Angehörige waren teilweise am gleichen Leiden gestorben, und geeignete Knochenmarkspender gab es nicht. Damit ließ sich die Studie auch unter ethischen Aspekten rechtfertigen. Aubourg stimulierte das Wachstum hämatopoetischer Stammzellen im Knochenmark und isolierte entsprechende Zellen aus dem Blut seiner Patienten. Dann synthetisierte er auf Basis von Lentiviren einen Vektor, der ALD-Gene enthielt. Mit diesem Konstrukt behandelte Aubourg Blutstammzellen der Patienten in vitro – und reinfundierte diese. Durch die Gentherapie ließ sich bei drei von vier Kindern eine Demyelinisierung komplett stoppen. Jahre später zeigte ein Follow-up, dass bis zu 13 Prozent der entsprechenden Blutzellen das neue Gen tragen und exprimieren. Neurotransmitter normalisiert Bei einer weiteren Erkrankung gelang es Forschern, Patienten mit Mutation im Aromatische-L-Aminosäure-Decarboxylase-Gen (AADC) zu behandeln. AADC katalysiert die Biosynthese von Dopamin, Serotonin sowie Tryptamin. Ohne dieses Enzym kommt es schnell zu einem Mangel an essentiellen Botenstoffen – die Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren waren vor Therapiebeginn bettlägerig. Nachdem ihnen Adenoviren mit intaktem AADC-Gen verabreicht worden waren, verbesserte sich ihr Zustand jedoch signifikant: Sie konnten sitzen beziehungsweise gehen. Fraglich ist, welche Menge an Vektoren zu applizieren ist und wie sich Probleme durch Antikörper gegen die Genfähren angehen lassen, sollte eine weitere Gabe des Gentherapeutikums erforderlich sein. Erfolg mit Vektoren Andere Forschergruppen berichten von erfolgreichen Experimenten bei Progerie, Herzschwäche, leberscher kongenitaler Amaurose (einer genetisch hervorgerufenen Funktionsstörung der Netzhaut) oder Hämophilie B. In den nächsten Jahren sind mit Sicherheit weitere Gentherapeutika zu erwarten – eine Perspektive für seltene Erkrankungen. Aufgrund des überschaubaren Markts werden sich Behörden mit vereinfachten Zulassungsverfahren zufrieden geben müssen, wie in der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden bereits vorgesehen.