Seit die Österreicher den deutschsprachigen Konsensus aufgekündigt haben, wonach beim Sechsfachimpfstoff die Grundimmunsierung im Säuglingsalter nach dem „3 plus 1“-Schema zu erfolgen habe, wird auch in Deutschland wieder über Impfschemata diskutiert.
Diskussionen ums Impfen laufen immer Gefahr, ins Überemotionalisierte abzugleiten. Wer es in bestimmten Kreisen wagt, die bewährten und umfangreichen Impfprogramme zu verteidigen, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und anderswo aufgebaut wurden, der riskiert schon mal, als Kinderschänder verunglimpft zu werden. Umgekehrt wird gerade in Deutschland Kritik an den offiziellen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) gerne brüsk zurück gewiesen, weil das angeblich den Impfskeptikern in die Hände spielen würde.
Zwei Piekser zu viel?
Diskussionen ums Impfen werden uns aber nicht erspart bleiben. Ein Bereich, bei dem es sich zu diskutieren lohnt, ist die Frage des besten Impfschemas für Säuglinge bei der Sechsfachimpfung und, damit im Zusammenhang stehend, bei der Pneumokokkenimpfung. Die Empfehlungen der STIKO zu diesem Thema sind genauso eindeutig wie seit Jahren unverändert: Säuglinge und Kleinkinder sollten in den Monaten 2, 3 und 4 ihre Grundimmunisierung mit dem Sechsfachimpfstoff erhalten. Geboostert wird im Alter von 11 bis 14 Monaten. Bei der Pneumokokkenimpfung im Säuglings- und Kleinkindalter wird der Einfachheit halber genauso verfahren. Beim „3 plus 1“-Schema werden nach dem Booster hohe Serumprotektionsraten erreicht, nachzulesen unter anderen in einer frei zugänglichen Publikation aus dem Jahr 2006, in der die beiden Sechsfachimpfstoffe Hexavac und Infanrix hexa verglichen wurden.
„2 plus 1“ anstatt „3 plus 1“
Allerdings: Das ist nur die halbe Wahrheit. Denn es gibt ein Alternativschema, bei dem sowohl die Sechsfachimpfung als auch die Pneumokokkenimpfung nur insgesamt dreimal verabreicht werden, und zwar als Grundimmunisierung in den Monaten 3 und 5 und als Booster in den Monaten 11 bis 12 beziehungsweise 11 bis 13. Auch mit diesem Schema lassen sich hohe Serumprotektionsraten erreichen. Ob die nun exakt genauso hoch sind wie beim „3 plus 1“-Schema, oder nicht doch etwas geringer, darüber lässt sich trefflich streiten. Tatsache ist allerdings, dass auch das „2 plus 1“-Schema ein seit langem erprobtes Schema ist: Es wird in vielen Ländern, darunter Italien und die skandinavischen Länder, seit Jahren eingesetzt. Und Tatsache ist auch, dass das Kind bei diesem Schema zweimal weniger gestochen wird.
STIKO diskutiert – seit 2005
Im vergangenen Jahr wurde nun in Österreich der bisherige teutonische Konsensus aufgekündigt, wonach im deutschsprachigen Raum „3 plus 1“ geimpft wird – mit derselben Begründung, mit der auch die vielen anderen Länder, die „2 plus 1“ impfen, das Impfschema geändert haben: Weniger Belastung der Kinder bei ähnlicher oder gleicher Effektivität. Historisch stammt das „3 plus 1“-Schema aus der Zeit, als Diphtherie, Tetanus und Pertussis als Dreierkombination verimpft wurden. Der Pertussis-Impfstoff war als Ganzkeimimpfstoff schlecht immunogen. Die reinen Tetanus-Diphtherie-Kombinationen wurden damals „2 plus 1“ verimpft. Mit Einführung der (besser immunogenen) azellulären Pertussis-Impfstoffe wurde dann das alte „3 plus 1“-Schema wieder aufgegriffen und im Laufe der Jahre zur Grundlage der Vielfachkombinationsimpfungen.
Nachdem nun selbst Österreich die Fronten gewechselt hat, stellt sich natürlich schon die Frage, wie denn der Stand der Diskussionen in Deutschland ist. Und der ist unbefriedigend. Zunächst einmal, viele Ärzte wissen das gar nicht, ist auch in Deutschland das „2 plus 1“-Schema im Prinzip zugelassen. Es ist Teil der Fachinformation, nur wird es nicht von der STIKO empfohlen. Die STIKO selbst laviert bei diesem Thema seit Jahren herum. Ein DocCheck-Leser berichtete uns, dass er vor sieben Jahren, im Jahr 2005, eine Anfrage beim damaligen STIKO-Vorsitzenden unternommen hatte. Die Daten zum „2 plus 1“-Schema gab es damals schon. Die Antwort der STIKO lautete, dass man „seit einiger Zeit“ prüfe, ob man nicht mit einer Impfung weniger auskommen könne. Auf die STIKO-Tagesordnung kam das Thema nie. Der Leser vermutet deswegen, dass das Thema verschleppt werde.
Work in progress
Eine Nachfrage von DocCheck bei der STIKO bestätigt unseren Leser insofern, als auch sieben Jahre nach dessen Anfrage mitgeteilt wird, dass man sich mit dem Thema weiterhin beschäftige. Die STIKO-Mühlen mahlen in diesem Punkt offenbar extrem langsam. Irgendwie scheint man sich dessen auch bewusst zu sein: „Die STIKO hat bereits entschieden, sich mit diesem Thema in naher Zukunft zu beschäftigen und dazu eine Arbeitsgruppe einzurichten“, so die offizielle Auskunft an DocCheck. Und weiter: „Die STIKO wird die Impfempfehlung nach der aktuellen Standardvorgehensweise zur Erstellung von Impfempfehlungen nach den Methoden der evidenzbasierten Medizin überarbeiten.“
Das lässt sich durchaus als eine Ankündigung verstehen, dass auch in Deutschland das „2 plus 1“-Schema künftig nicht mehr geächtet ist. Viel konkreter werden die Aussagen der STIKO dann aber auch beim telefonischen Nachfassen nicht. Im Gegenteil, es wird immer noch ziemlich viel orakelt: „Aufgrund neuerer, nicht in Deutschland erhobener Daten konnte gezeigt werden, dass ein ‚2 plus 1‘-Schema möglicherweise ausreichend ist.“ Möglicherweise, und dann nicht mal in Deutschland. Pfui.
Massenträgheit oder verdeckte Industriepolitik?
Man kann sich jetzt natürlich viele Gedanken darüber machen, was hinter der Zurückhaltung der „Offiziellen“ in Deutschland steckt. Ein Argument wäre, dass man keine unnötigen Diskussionen über das Thema Impfen anstacheln möchte, um die nach wie vor hohen Impfquoten in Deutschland nicht zu gefährden.
Genauso lässt sich allerdings argumentieren, dass durch das Festhalten an „3 plus 1“ Verschwörungstheorien Nahrung gegeben wird, wonach die STIKO die Industrie oder wahlweise die Ärzte protegieren wolle. 650000 Arztbesuche weniger pro Jahr, 1,3 Millionen Injektionen weniger: Den Umstieg würden Ärzte und Unternehmen schon spüren.